Jürgen Klopp und Günther Jauch vor leeren Stühlen

Gut anderthalb Jahre kaufe ich am Kiosk bei mir an der Ecke. Der Kioskbetreiber ist zwar ein höflicher, aber außerordentlich sparsamer Mensch. Außer: "Hallo!", "Bitteschön", "Ein Euro" (Flasche Bier), "Fünfeuroachtzig" (Tabak und Blättchen), "Dankeschön", "Tschüss!" spricht er nichts. Anfänglich habe ich versucht, ihm etwas mehr zu entlocken, habe etwa launige Bemerkungen übers Wetter gemacht, aber war nie besonders originell, denn den Mann umgibt die Aura von kommunikativem Unvermögen. Diese Aura lähmt auch mein Sprachzentrum. Mit der Nachsprechpuppe "Klein-Plapperle" könnte ich mich besser unterhalten als mit dem Kioskmann. Daher wollte ich ihn gestern Abend nicht sehen.

trinkhalle
Die Dämmerung fiel herab, als ich zum übernächsten Kiosk bummelte. Aber sie fiel mir nicht auf den Kopf. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Mit der Dämmerung endete der längste Tag dieses Jahres, und von heute an schwinden die Tage wieder. Man hat es gar nicht so richtig mitbekommen. Zumindest ich fühle mich ein bisschen betrogen, als wäre das Anwachsen der Tage dem Merkelschen Sparpaket zum Opfer gefallen. Die Luft war wider erwarten recht lau. Trotzdem waren die Stühle und Tische vor und in den Kneipen leer. Auf den allerorten aufgestellten TV-Geräten analysierten Günther Jauch und Jürgen Klopp ein Fußballspiel, und keiner hörte zu. Eigentlich hatte ich Lust, irgendwo ein Bier zu trinken, aber Kneipen, in denen nur zwei Figuren an der Theke hocken und von Jauch und Klopp zugedröhnt werden, sind noch abschreckender als ein Kioskmann, der jahrelang nur fünf verschiedene Wörter herausbringt.

Das war auf der sonst so belebten Limmerstraße in Hannover-Linden nicht anders, eher schlimmer, denn hier waren die TV-Schirme größer, und manche Lokale hatten sogar zwei, einen drinnen, einen draußen. Jauch und Klopps Stimmen hallten gar unheimlich auf die leere Straße hinaus. Jauch nannte Klopp einen hochbezahlten Experten, worauf Klopp abwiegelte, von "hochbezahlt" könne nicht die Rede sein. Diesem Understatement sind wohl auch die leeren Lokale geschuldet. Die Leute geben vor, sie hätten kein Geld. In Wahrheit fahren sie im 7er-BMW zwei bis vier Deutschlandfähnchen spazieren oder hoppen in Südafrika von Stadion zu Stadion, sind mal rasch zum Segeln bei einer Regatta rund um die Isle of Wight, zum Mittsommernacht-Golfen nach Schweden geflogen oder sahnen sogar die megafetten Tageshonorare ab, wenn sie abends eine Riesenausbeute leerer Flaschen zu Rewe bringen, weshalb Rewe eigens bis 22 Uhr geöffnet halten muss.

Abgelegt unter: Abendbummel online
3498 mal gelesen
webgeselle - 22. Jun, 20:12

Auf den ersten Blick habe ich gedacht...


... dass nach der Post nun auch die Sparkasse ihren Filialbetrieb in so Wurstmaxebuden und Zeitungskioske usw. auslagert...

(... ich wollte mal was total Banales sagen - haut das so weit hin?...)
 

Trithemius - 22. Jun, 20:18

Voll und ganz, lieber webgeselle.
kraM - 22. Jun, 20:22

Schöner Text

Trinkhalle ist aber ein feiner Name für einen Kiosk.

Trithemius - 22. Jun, 20:29

Danke

Ist aber nicht mein Kiosk. Über Trinkhallen lies mal hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Trinkhalle_%28Verkaufsstelle%29#Geschichte
kraM - 23. Jun, 12:55

Das habe ich ja alles noch nie gehört. Ich wohne in Hamburg und kenne den Begriff Kaffeeklappe ebenso wenig wie Trinkhalle. Ich dachte, das wäre ein ungeschickt gewählter Name an dem Laden. Ich kenne nur Kiosk, aber das sagt man angeblich nur in Bayern. Wieder was gelernt.
Trithemius - 23. Jun, 13:18

Hab's vorher auch nicht gewusst und nebenher mal bei Wikipedia nachgeschaut. Da war ich ebenso überrascht wie du. Hannover-Linden hat einige Trinkhallen, glaube ich, ist aber auch ein altes Arbeiterviertel.
Mimiotschka - 22. Jun, 20:38

Ich habe heute ein Auto mit 6 der schönen Fähnchen sehen können, als ich Flaschen zu einer anderen NiedrigPreis-Kette tragen war.

Trithemius - 22. Jun, 20:40

Das war bestimmt eine Stretchlimousine, eigens angemietet, damit Platz für die Fähnchen ist.
Heinrich (Gast) - 22. Jun, 21:34

Ich habe auch noch eine Frage, die vielleicht banal klingt:
Merkt denn so ein erfahrener Moderator wie der Jauch gar nicht, dass ihm niemand zuhört?

Trithemius - 22. Jun, 21:54

Der Zweiwegfernseher ist ja noch nicht eingeführt, vermutlich, weil das eitle Pack sonst in Depressionen versacken würde.
Klar-a - 22. Jun, 22:12

In der Anstalt - Sie kennen sie vielleicht? - wurde letzthin von der ver-jauchten Fernsehgesellschaft gesprochen, deren Auswüchse Sie hier nun hervorragend nochmals beschrieben haben.
Zudem ist mir heute klar geworden warum ich gerade heute leicht depressive Schübe kaum noch unterdrücken konnte...von nun an werden die Tage 'deutlich' kürzer, ohne dass ich diesen Sommer bisher tatsächlich genossen habe!!! Das ist wahrhaftig depremierend und umgehend nachzuholen...bevor das erste Lichtlein....oh je!!! klara

Trithemius - 22. Jun, 22:47

Wortspiele mit Namen sind ja eigentlich ein Fall für die Witzpolizei, aber im Fall von "verjaucht" muss ich doch schmunzeln. Das mag dann exemplarisch stehen für die mediale Jauche, die Tag um Tag in die willfährigen Köpfe gekippt wird.
Für Sie und mich und einige andere hoffe ich natürlich, dass wir nicht "Tschland ist Weltmeister der Herzen" brauchen, um den Sommer noch richtig genießen zu können.
bill (Gast) - 24. Jun, 13:18

Ich dachte mir heute so beim Gehen: „Ich habe einen einzigen, großen Wunsch, von dem ist mein Herz so voll, daß es weh tut.“ – Und dann sah ich sie auf dem Bürgersteig stehen. Sonnenstrahlen überall. Einer war ihr übern Mund gefallen und sie zog ihn lieber drunter weg - hehe ;D – Aber dafür gibt es keine Promessen, vergessen (?) einer Bitte nachzugehen.
Keine Sorge! Die Sonne strahlt und wir losen heute mit Freude: Vor Johanni bitt um Regen, nachher kommt er ungelegen. Und wenn die Sonne am Sonntag noch scheint, ist der Sommer gerettet und wir werden viel blauen Himmel sehen. In diesem Sinne schon heute: Blaue Tage soll man feiern :D

syra_stein - 26. Jun, 15:37

Hannover hat so an die 50 offiziell benannte Trinkhallen. Kommt gut, wenn man abends mal feststellt, daß man die Milch für den Kaffee am nächsten Morgen vergessen hat, oder noch viel wichtiger... die Spaghetti, oder die Zigaretten? Ein sehr eigenschöne Stimmung auf dem Foto. Die Limmerstraße fast menschenleer? Selten das....

Trithemius - 13. Jul, 12:14

Vielen Dank für die Zahl. Hätte ich nicht gedacht.

Trackback URL:
https://trithemius.twoday.net/stories/juergen-klopp-und-guenther-jauch-vor-leeren-stuehlen/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Teppichhaus Trithemius / Teestübchen Trithemius

Aktuelle Beiträge

Die Papiere des PentAgrion...
<img alt="Papiere des PentAgrion bd 2" style="margin:5px;"...
Trithemius - 23. Apr, 13:18
Die Papiere des PentAgrion...
Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken...
Trithemius - 3. Feb, 09:49
Papiere des PentAgrion...
Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den...
Trithemius - 3. Feb, 00:20
Die volle Wahrheit über...
Dienstagmorgen kurz vor der Teestübchen-Redaktionskonf ernenz....
Trithemius - 25. Apr, 19:16
Besser aufrecht sterben,...
Besser aufrecht sterben, als mit kalten Knien leben! Nach...
Lo - 25. Feb, 17:03
An einem Sonntagmorgen...
Allmorgendlich klappe ich den Tagesschau-Feadreader...
Trithemius - 25. Feb, 10:45
Teestübchen Humorkritik...
Morgens werde ich wach, ist mein Humor weg, die heitere...
Trithemius - 13. Feb, 17:30
Hallo Melanie,
welch eine Überraschung. Du bist mir offenbar nicht...
Trithemius - 3. Jan, 17:02

RSS Box

Links

Suche

 

Kalender

Juni 2010
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 4 
 5 
 6 
 8 
12
13
16
19
20
21
24
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 

Web Counter-Modul

Status

Online seit 6467 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

Credits


Abendbummel online
Bild & Text
Ethnologie des Alltags
Frau Nettesheim
freitagsgespräch
Gastautoren
Hannover
Internetregistratur
Kopfkino
Pataphysisches Seminar
Pentagrion
Schriftwelt im Abendrot
surrealer Alltag
Teppichhaus Intern
Teppichhaus Textberatung
Textregistratur
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren