Plausch mit Frau Nettesheim - Geschlossene Fenster

trithemius & Frau NettesheimTrithemius - Die Heizung geht wieder, Frau Nettesheim. Gestern habe ich über eine Stunde nach der Anleitung für den elektronischen Thermostaten gesucht. Dabei fiel mir auf, dass ich enorm viel Zeug in den Schubladen habe, das ich nicht mehr brauche.


Frau Nettesheim - Und warum werfen Sie nichts davon weg?

Trithemius - Das liegt zum Teil an der „von unbestimmter Sehnsucht erfüllten Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu früheren, in der Erinnerung sich verklärenden Zeiten, Erlebnissen, Erscheinungen in Kunst; Musik, Mode u. a. äußert.“

Frau Nettesheim - Was für ein Satz! Geht es auch kürzer?

Trithemius - Nostalgie. Sie wissen, Frau Nettesheim, dass ich mich bemühe, Fremdwörter zu vermeiden, aber manchmal fehlt eben ein entsprechendes deutsches Wort. Wegen Nostalgie habe ich im Fremdwörterduden nachgeschlagen. Der Duden braucht zum Verdeutschen 27 Wörter. Was ist wohl der Grund für die Lemmalücke im deutschen Wortschatz?

Frau Nettesheim - Unsere Vorfahren hatten offenbar keinen Bedarf. Vielleicht haben sie sich nie sehnsuchtsvoll an die Vergangenheit erinnert, sondern waren in der Gegenwart zu sehr gefordert und haben auf eine bessere Zukunft gehofft.

Trithemius - Das klingt zwar nach einer gewagten These, Frau Nettesheim, aber irgendwie haben Sie vermutlich Recht. Nostalgie ist erst durch die gereiften 68er in Mode gekommen, wie ich einem aufschlussreichen Essay entnommen habe.

Ich vermute, das Wort kam auf, weil die Welt sich durch die modernen Kommunikationsmittel beschleunigte. Wenn alles so rasch geht und immer schneller in der Versenkung verschwindet, wollen wir manchmal innehalten und zurückblicken, aus der „von unbestimmter Sehnsucht erfüllten Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu früheren, in der Erinnerung sich verklärenden Zeiten, Erlebnissen, Erscheinungen in Kunst; Musik, Mode u. a. äußert.“ Und wenn einer dieses Gefühl hat und ein anderer fragt, was guckste so blöd, dann ist es einfacher zu sagen: "Ich hab' Nostalgie!“ Auch wenn’s ein Fremdwort ist oder sogar, weil es ein Fremdwort ist.

Frau Nettesheim - So ein Quatschkopfwort kommt mir nicht über die Lippen.

Trithemius - Was halten Sie von Vergangensucht, Früherweh oder Frühersucht, Vergangenweh?

Frau Nettesheim - Frühersucht wäre etwas anderes als Früherweh. Genauso ist Vergangensucht nicht gleich Vergangenweh. Warum haben Sie so viele Gegenstände in Ihren Schubladen, Trithemius?“

Trithemius - Aus Vergangenweh. Ach, die süßen Erinnerungen!

Frau Nettesheim - Heuchler. Vermutlich sind Sie nur zu faul, mal gründlich auszumisten.

Trithemius - Nicht ganz, Frau Nettesheim. Einiges in den Schubladen ist Autobiographie durch Dinge. Anderes, wo ich die Herkunft nicht mehr weiß, liegt da für die Zukunft. Man könnte es vielleicht mal brauchen. Und dann sind da Dinge, die ihre Bedeutung verloren haben, weil sie Technikgeschichte sind: Bedienungsanleitungen, Kassetten, Floppy Discs, Kompakt Discs, CD-Roms, Festplatten. Die Datenträger bewahren ihre Inhalte als stillschweigendes Geheimnis, denn ich besitze keine Geräte mehr, sie zum Sprechen zu bringen. Soll ich die Datenträger wegwerfen? Die Inhalte sind ja noch nicht wirklich im Orkus verschwunden. Man könnte sie theoretisch noch auslesen. Aber sie leiden an Schwindsucht. Wie traurig. Das macht mir so ein Vergangenweh.

Frau Nettesheim - Do mäht mer en Kölle kein Finster för op.
1866 mal gelesen
nömix - 3. Mai, 18:07

»Nostalgie ist, wenn man von der Vergangenheit überholt wird.«
hat mal einer gesagt. (Markus M. Ronner war das, glaub ich.)

Und der weise Robert Lembke meinte,
»Nostalgie ist das, was sich im Gasthaus Hackbraten nennt.«

Trithemius - 3. Mai, 18:21

Wollen Sie damit sagen,

dass ich in meinen Schubladen Hackbraten horte, so dass ich, wenn ich sie öffne, vom Gestank des Vergehenden überrollt werde? Ich gebs zu.
kraM - 3. Mai, 18:28

wenn du mal dokusoaps schaust, wirst du merken, dass viele so eine schublade nicht aus nostalgie haben, sondern um alles reinzustopfen, damit herr zwegat das dann mal durchschauen und -sortieren kann. wahlweise gibts auch ne plastiktüte hinterm sofa, wo die kontoauszüge rausfallen. :)

Trithemius - 3. Mai, 18:30

Das hast du wunderschön

gesagt.
walhalladada - 3. Mai, 19:01

Gibt es etwas schlimmeres, als in Schubladen zu denken,
lieber Herr Trithemius..?

Trithemius - 3. Mai, 20:58

Wie man sieht, können manche Schubladen recht hübsch sein, lieber Herr Doktor.
Mimiotschka - 3. Mai, 19:11

So ähnlich geht es mir mit 2 Umzugskartons.

Trithemius - 3. Mai, 21:00

Kenn ick, ha ick ooch zu Hause, im Keller nämlich.
Videbitis (Gast) - 4. Mai, 16:25

Da wäre ich mir nicht so sicher,

liebe Frau Nettesheim:

"Och wat wor dat fröher schön doch en Colonia,
wann der Franz m´em Nieß nom ahle Kohberg ging.
Wenn d´r Pitter Ärm en Ärm m´em Appolonia
stell vergnög om Heinweg ahn ze knuutsche fing!"

... sang Willi Ostermann schon in den 20er Jahren. Früher war ja immer alles besser, jedenfalls für viele, die "in die Jahre" kommen.

Trithemius - 4. Mai, 17:39

Genau!

An die Verklärung der eigenen vergangenen Jugend hat Frau Nettesheim ganz offenbar nicht gedacht. Typisch. Sie altert ja nicht.

Dankeschön für den hübschen Ostermann-Text.
textorama (Gast) - 7. Mai, 11:41

Jaja, früher war alles besser, sogar die Zukunft. Ums mal so zu sagen.
Ich vermutete schon länger solche Gründe, warum die Schubladen bei mir so voll sind, mit Kram der da liegt, nach Fengshui schon längst das Verfallsdatum hinter sich...

Trithemius - 7. Mai, 13:18

Bin in den letzten 10 Jahren dreimal umgezogen, und jedesmal habe ich den Kram in den Schubladen aussortiert. Es hilft aber gar nichts, schon nach kurzer Zeit füllen sie sich wieder. Ich vermute, das Zeug vermehrt sich heimlich.

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