Schriftwelt im Abendrot

Teestunde im Teppichhaus (1)

Früh sinkt am Nachmittag die Dunkelheit herab, Zeit zu lesen. In der Reihe „Teestunde im Teppichhaus“ erscheint in den nächsten Wochen eine Reihe unterschiedlich langer Beiträge zu den Bedingungen von Lesen und Schreiben, ein Bummel durch die Jahrtausende der Schriftkultur, ausgehend von Phänomenen des Alltags. Der erste kurze Beitrag beschäftigt sich mit dem Teehaus im Logo der Reihe.
Teestunde im Teppichhaus


Das Tee-Haus scheint etwas für verspielte Menschen zu sein. In der Praxis bewährt sich die Form nämlich gar nicht. Nach dem Aufbrühen bekommt man den aufgequollenen Tee nicht recht aus dem Häuschen, was auch einen Hinweis darauf gibt, dass der Tee nicht genug Raum hat, sich zu entfalten.

Benutzt man das Teehaus, dann wird das Wasser zum Tee, indem die Teestoffe in Form des Wortes Tea austreten, um sich erst dann im Wasser zu verteilen. Der Vorgang ist sprachtheoretisch interessant. Gemeinhin haben Lautfolge eines Wortes und seine schriftliche Form nichts gemeinsam mit der Sache, die sie bezeichnen. Da aber die Löcher im Dach das Wort "TEA" formen, wird bei jedem Aufbrühen das Wort TEA ins Wasser geschrieben. Hier liegt also ein schriftmagischer Gedanke zu Grunde. Das Zeichen für "Tee" vermischt sich mit der bezeichneten Flüssigkeit Tee.

Tee aus TeeEine Steigerung dieser magischen Idee wäre es, eine Schreibfeder in den so aufgebrühten Tee zu tunken, um das Wort "Tee" damit zu schreiben.
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Medialer Bummel in fünf Etappen

Zeitungsherbst

Vorgestern

Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dachte der Chefredakteur der New York Times über die Zukunft seines Mediums nach. Seine Vision: Zeitungen kämen morgens aus dem Faxgerät. Das Trägermedium wäre eine abwaschbare Folie. Nach dem Lesen würde die Zeitung weggewischt, und die Folie könnte für die nächste Ausgabe wiederverwertet werden.

Zunächst hat die Idee etwas Sympathisches, denn sie greift auf eine antike Tradition zurück. Die Tinte des Altertums war nicht wasserfest. Mit einem Schwamm konnte sie vom Papyrus abgewaschen werden. Der römische Dichter Martial (40-104 n. Chr.) schickte seinem vollendeten Buch gleich einen Schwamm mit, damit der Freund den Text auswischen konnte, wenn er nicht gefalle. Manche Autoren bedienten sich beim Löschen missratener Textstellen der Einfachheit halber ihrer Zungen. Bei einem Wettbewerb der Dichter am Hofe des römischen Kaisers Caligula sollen die durchgefallenen Poeten gezwungen worden sein, ihre Ergüsse selbst abzulecken.

Die Vision der abwaschbaren Zeitung ist nicht Wirklichkeit geworden, das Internet hat sie unnötig gemacht. Da jedoch vermutlich niemals ein Chefredakteur zu mir nach Hause gekommen wäre, um seine Zeitung abzulecken, ist das nicht wirklich bedauerlich.

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Gestern

Eine täglich abgewaschene Zeitung hätte auch eine nachträgliche Überprüfung von Aussagen unmöglich gemacht. Alte Zeitungen sind historische Dokumente. Trotzdem ist es nicht ratsam, sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung zu sammeln, wie es ein Wiener getan haben soll. Am Ende konnte er sich zwischen den Zeitungsstapeln nur noch durch schmale Laufwege bewegen. Selbst das Aachener Zeitungsmuseum sammelt nur erste und letzte Ausgaben einer Zeitung sowie Exemplare, die herausragende Ereignisse des Weltgeschehens dokumentieren.

Am Freitag vollzog
sich ein herausragendes Ereignis in der deutschen Presselandschaft, und ich hatte es zunächst verpasst, da ich den ganzen Tag im Lektorat eines Verlags zugebracht hatte, wo wir die Endfassung eines Fachbuches erstellten. Gegen 20:00 Uhr frage ich vergeblich in der Tankstelle nach, und auch beim freundlichen Iraner, der gerade die Aushangtafeln in seinen Kiosk räumt, ist die Zeitung ausverkauft. Wo kriege ich jetzt noch eine Zeitung vom Tage her? Schräg gegenüber liegt der Bambi-Grill, und da ich ohnehin zu müde zum Kochen bin, beschließe ich, mir Pommes zu holen, die in Aachen Fritten heißen, was zum Beispiel im Ruhrgebiet keiner versteht, wie ich letztens erfahren habe.
Exkurs Bambi-Grill
Der Kinderfilm Bambi von 1942 ist ein Zeichentrickfilm der Walt-Disney-Studios. Die Vorlage lieferte das 1923 erschienene Buch „Bambi, ein Leben im Walde“ von Felix Salten. Als Disneyfigur erlangte das Rehkitz Bambi internationale Berühmtheit, so dass der Name mit einem Rehkitz gleichgesetzt wird wie Tempo mit einem Papiertaschentuch. Warum das Schnellimbiss-Lokal Bambi-Grill heißt, erschließt sich ohne weiteres nicht. Vermutlich dreht sich zartes Rehkitzfleisch auf dem Dönerspieß. Wer im Bambi-Grill auf sein Essen wartet, dem steht ebenfalls vorzügliche geistige Nahrung zur Verfügung. Auf den Tischen liegen die Süddeutsche Zeitung, die F.A.Z. und das Handelsblatt aus. Dieser Umstand verweist auf den Kundenkreis, denn der Bambi-Grill liegt im Aachener Hochschulviertel. Die Zeitungsauswahl spiegelt die politische Ausrichtung heutiger Studenten.
Im Bambi-Grill hockt einer auf einem Schemel, isst Bambi-Geschnetzeltes in dicker Soße mit Fritten und liest nebenher die F.A.Z. Mist! Hoffentlich macht der jetzt keine schmantigen Flecken auf die Zeitung, denn genau die will ich der Bambi-Grill-Bedienung abschwatzen.

***

Leider pickt der Mann elend langsam in seinem Teller herum, und macht meine Hoffnung zunichte, er werde fertig mit Essen und Lesen sein, bevor ich meine Pommes bezahle. Entweder ist die FAZ so interessant, dass er kaum zum Essen kommt, oder aber er kaut auf jedem Happen Geschnetzelte 30 mal, um sich wie ein alter Indianer beim Rehkitz zu bedanken. Trotzdem frage ich die Besitzerin hinter der Theke, ob ich ihr die Frankfurter Allgemeine Zeitung abkaufen könne, denn ich hätte keine mehr bekommen. Ob sie den Grund für meinen Wunsch versteht, weiß ich nicht, doch sie deutet freigebig auf die Zeitung und sagt, ich könnte sie haben. Über der F.A.Z. sitzt allerdings stur wie ein Esel der langsame Esser. Deshalb vereinbare ich mit meiner Gönnerin, die Zeitung am Samstag abzuholen. Dann jedoch muss ich mir das Exemplar aus der Altpapiertonne suchen, denn der Sohn der Besitzerin hat sie bereits entsorgt.

FAZ mit neuem LayoutMein Exemplar der F.A.Z. riecht ein wenig. Man hat Pommes, Currywurst, Döner und sonst was über ihr verzehrt. Trotzdem bin ich froh, diese besondere Ausgabe zu besitzen. Die F.A.Z. hat am Freitag ihr traditionelles Layout aufgegeben. In einem Leitartikel auf Seite eins beschreibt FAZ-Mitherausgeber Werner D'Inka, was sich geändert hat und warum.

Das Layout ist das
Gesicht einer Zeitung und macht sie unverwechselbar. Deshalb ist es stets ein Wagnis, die bekannten Gesichtszüge zu verändern. Wer sich liften lässt, mag sich anschließend schöner finden. Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass andere sich befremdet fühlen und sich fragen, ob sie es noch mit der selben Person zu tun haben. Deshalb titelt D’Inka: „Wir bleiben uns treu“, was ein wenig selbstbezüglich wirkt, denn als Leser ist man eher daran interessiert, ob einem die Zeitung treu bleibt. Was hat sich geändert? Auf der ersten Seite erscheint ab jetzt ein Foto und zwar in Farbe. Die Frakturschrift über den Kommentaren ist durch eine schmalfette Times ersetzt. Die Trennlinien zwischen den Spalten sind entfallen, die Spalten selbst sind durch verschieden breite Stege voneinander abgesetzt. Man will dem Leser die Orientierung erleichtern, damit er sich nicht in der Seite verirrt und versehentlich in einem Artikel nebenan weiter liest. Mehr weißer Raum macht die Zeitungsseite lichter. Das heißt, dass die Artikel kürzer als früher sind. Bleiwüsten wird es deshalb in der FAZ nicht mehr geben; Kanäle des Lichts führen das Auge, und wem ein Text zuviel Mühe macht, findet Erholung und Zerstreuung in den Oasen der Farbfotos.

Vor dieser Radikalliftung hat man sich per Marktforschung rückversichert, und D’Inka verkündet froh: „Mit den Neuerungen entspricht die Redaktion dieser Zeitung den Wünschen einer großen Mehrheit der Leser. Der Souverän hat gesprochen (…).

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Heute


Was ist los mit dem Souverän Zeitungsleser? Er ist offenbar hibbelig geworden und mag nur noch ungern lange Texte lesen. Die audiovisuellen Zerstreuungsmedien haben seine Lesegewohnheiten verändert, und zwar so radikal, dass selbst die als konservativ geltende F.A.Z. ihr Erscheinungsbild ändern muss. Von der Frakturschrift vermutet D’Inka zu Recht, dass ihre Kenntnis langsam verloren geht. Viele jüngere Leser haben Schwierigkeiten damit.

Am heutigen Nachmittag habe ich auf der Dachterrasse gesessen, um die Druckfassung des Buches noch einmal zu kontrollieren, bevor es am Montag in die Druckerei geht. Unter der blitzenden Herbstsonne strahlte das Papier im reinsten Weiß, und bei diesem ausgezeichneten Kontrast zwischen Blatt und Druckerschwärze konnte ich sogar ohne Lesebrille arbeiten. Obwohl ich mich manchmal mit dem Wind um den Manuskriptstapel zanken musste, habe ich konzentriert geschaut und gelesen, mit einem Bleistift die Seiten abgehakt oder hie und da eine kleine Korrektur angemerkt. Der Mensch braucht Material, um zu begreifen. Deshalb sollte man die Endkontrolle eines Textes nicht am Bildschirm vornehmen. Man braucht das Bewusstsein von Material, um die Schrift ernst zu nehmen, die eben nicht einfach abzuwaschen ist oder in einer amorphen digitalen Form daherkommt, jederzeit zu verändern oder spurlos zu tilgen. Die Idee der sorgfältigen Korrektur gehört zum Printmedium. Sie ist ein Relikt der verschwindenden Gutenbergkultur, in der Setzer und Korrektoren noch mit dem Druckfehlerteufel kämpften, zu dessen Vertreibung sie sich mit „Gott grüß die Kunst!“ begrüßten. Sorgfältige Korrektur ist dem Internet eher fremd. Kaum jemand macht sich die Mühe und druckt zum Beispiel einen Blogtext zum Redigieren aus, bevor er ihn veröffentlicht. Digitales Schreiben verführt zur Schludrigkeit. Und schludrig Geschriebenes wird mit Recht schludrig gelesen.

Mittwoch-BastelnAch ja, der
Ausdruck, mit dem ich auf der Dachterrasse gesessen habe – das Buch heißt „Zeitung in der Primarstufe“. Es bietet didaktische Grundlagen für das Lernen mit der Tageszeitung. Neben theoretischen Basistexten enthält es eine Fülle von Unterrichtsvorschlägen, -beschreibungen und Erfahrungsberichten von Grundschullehrerinnen und -lehrern. Sie zeigen, wie sich schon Kinder der ersten Klassen an die Zeitung heranführen lassen, indem sie lesen, auswerten, selbst für die Zeitung schreiben oder mit dem Zeitungsmaterial gestalten. Ja, auch das Basteln mit der Zeitung hat seinen Wert. Das ist machen im alten Wortsinne, "kneten, streichen, pressen, abbilden". Wer als Kind schon mit der Zeitung hantiert hat, weiß die Materialerfahrung zu schätzen. In den Händen dieser Kinder liegt die Zukunft der Zeitung.

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Morgen

Der Herbst der Zeitungen verspricht bunte Blätter. Die Redaktionen sehen sich in Konkurrenz zum Internet und vergessen dabei zu oft, was die Qualität der Zeitung ausmacht: Man kann sie anfassen und nicht auswischen. Das gilt es herauszustellen und zu bewahren. Gerade sucht die Süddeutsche Zeitung den Königsweg, im Internet ihre Seriosität zu verspielen. Boulevardthemen und aberwitzig untertitelte Bildstrecken sind der krampfhafte Versuch, den ins Internet abgewanderten Lesern Zucker zu geben. Was ist die Folge für den arglosen Leser? Karies im Gehirn. Gut, das Bild ist gewagt, doch ich weiß nicht, wie der psychologische Fachausdruck für die schleichende Verblödung lautet, zu deren Förderer sich die Zeitungen nicht machen sollten, wenn sie noch einen goldenen medialen Oktober erleben wollen.
Zeitung-in-der-Sackgasse
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Fingerkuppenkräuselkrause

Zu viele Dinge in der Welt, zuviel Information. Ich wollte einen Pullover, habe aber einen Wasserkocher gekauft. 5000 Seiten Gebrauchsanleitung in allen Weltsprachen. Dabei ist das Gerät nicht etwa die technische Variante einer Eier legenden Wollmilchsau, sondern kocht nur Wasser. Meine Gebrauchsanleitungsbibliothek füllt eine ganze Kommodenschublade, und fast alles davon ist noch ungelesen. Für die erfolgreiche Benutzung eines Wasserkoches ist die Lektüre der Gebrauchsanweisung nicht unbedingt erforderlich, sondern eher hinderlich, denn ich will ja jetzt heißes Wasser und nicht erst in fünf Stunden. Tatsächlich ist nicht einmal gesagt, dass ich den Wasserkocher besser zu bedienen lerne, wenn ich die Gebrauchsanweisung studiere. Bei den meisten Geräten reicht dem Nutzer das Weltwissen, das er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hat gepaart mit der Technik Versuch und Irrtum. Generell ist die genaue sprachliche Beschreibung nicht so leistungsfähig wie man glauben könnte. Eine Aufbauanleitung für ein Möbelstück zum Bespiel wäre sprachlich kaum zu vermitteln. Hier sind Schaubilder mit den einzelnen Aufbauphasen hilfreicher.

Interpunktion
Wenn man zum Beispiel ein Ereignis oder ein Bild digitalisiert, dann setzt man einer fließenden komplexen Wirklichkeit eine grobe Struktur gegenüber. Anders: Man nimmt über ein Netzwerk die Information ja oder nein ab. Eine Kurve lässt sich mit Hilfe von Punkten beschreiben. Ich könnte sie auch anders interpunktieren ( im Bespiel rot). In beiden Fällen vermittelt sich das Bild der Kurve. Nur eine vergleichende Überprüfung bringt an den Tag, dass die gleiche Kurve auf unterschiedliche Weise dargestellt ist. Ist die zugrunde liegende Struktur zu fein für das menschliche Auge, dann bilden sowohl die grünen wie die roten Punkte die Kurve scheinbar 1:1 ab. So wäre die unterschiedliche Interpunktion von grün und rot nicht mehr zu erkennen.

Ähnliches geschieht bei der Zerlegung eines Bildes in Rasterpunkte im Reproverfahren. Wenn man mehrere Aufnahmen macht und dabei das Raster jeweils um einige Grad dreht, einmal um die Achse, sieht ein unbefangener Betrachter bei jeder Einzelaufnahme das gleiche, nicht jedoch das selbe Bild, wie er glaubt zu sehen. Legt man nur zwei solcher Filme übereinander, erhält man einen Moiré-Effekt. Alle Bilder übereinander ergeben nur noch schwarz. Die Bildinformation ist verschwunden. Hier zeigt sich, dass sich eine Information nur wahrnehmen lässt, wenn sie ausgedünnt ist. Die Information muss ausgedünnt sein, damit der Mensch sie verwerten kann. Der Verfeinerung der Wahrnehmungsstrukturen sind also Grenzen gesetzt.

Der Mensch eignet sich die komplexe Welt über die Wahrnehmungsstruktur Sprache an. Dass die Wörter der Sprache wie grobe Punkte sind, mit deren Hilfe wir die Wirklichkeit erfassen, ist uns bei der Sprachverwendung selten bewusst. Wir neigen dazu, die sprachliche Erfassung mit der Wirklichkeit gleichzusetzen. Eine Verfeinerung der Sprachstruktur brächte jedoch keine genauere Wirklichkeitserfassung. Wenn wir an einer Stelle verfeinern, müssen wir an einer anderen Stelle vergröbern, damit Gesamtmenge der Information das menschliche Maß nicht überschreitet.

Was ist Fingerkuppenkräuselkrause? Ich bekomme sie, wenn ich bestimmte Textilien berühre. Denn da nehme ich das Textil nicht mehr als eventuell tragbar wahr, sondern es vermittelt sich mir nur eine Information: „Ich war einmal ein Joghurtbecher.“
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seid auch im geringsten nicht im geringsten untreu - Kosogs Diktat

liebe kinder! heute nacht nahm ich mir vor, euch diesen morgen einige lehren fürs leben des näheren nieder zu schreiben - so beginnt das Testament einer Mutter, das keine Mutter niedergeschrieben hat, sondern der Realschullehrer Josef Lammertz. In diesem Testament sind alle Schwierigkeiten der Groß- und Kleinschreibung versammelt. Bekannt gemacht wurde der Text 1912 von Oskar Kosog, Lehrer am Lehrerinnenseminar. Er versah es mit 65 Erklärungen, machte aber selbst im Diktat 5 Fehler.

Das „Testament einer Mutter“, genannt Kosogs Diktat, diente in den Jahren danach als abschreckendes Beispiel für die unnötig komplizierten Regeln der seit 1903 geltenden Duden-Orthographie. Professor Dr. Kühnhagen, Verfechter der Kleinschreibung, schreibt in seinem Buch "notstände unserer rechtschreibung":
„wie schwer unsere amtliche rechtschreibung allein in dem Punkte des schreibens der hauptwörter mit großen anfangsbuchstaben ist, zeigen die versuche mit einem diktat, das mittelschullehrer kosog aus josef lammertz: ‚die rechtschreibung für das deutsche volk’ entnahm. (…)
30 lehrer machten 4 bis 22 fehler, 8 frauen mit höherer mädchenschulbildung 13 bis 30 fehler, 10 akademiker, darunter dozenten der universität, 14 bis 30 fehler, eine anzahl studierender damen 12 bis 21 fehler, 12 studenten 14 bis 32 fehler, ein oberlehrer, der sich dem versuche anschloß, 18 fehler."
Das Zitat stammt aus einer Steitschrift von Walter Porstmann aus dem Jahr 1920. Der Ingenieur Porstmann, Begründer des DIN-Papierformats, setzte sich in dieser Streitschrift für die radikale Kleinschreibung ein. Er wollte die Buchstaben aus der Holzzeit in die moderne Eisenzeit überführen und fortan „Staben“ nennen. Mit seinen Reformbemühungen stand er nicht allein. Doch mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde dem ein Ende gesetzt.

Anfang der 50er Jahre machte Leo Weisgerber, einer der Väter der deutschen Nachkriegsgermanistik, erneut auf Kosogs Diktat aufmerksam:
"Dieses Diktat lernte ich zufällig durch einen Kollegen kennen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den ersten Satz, und sofort schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß das Diktat vortrefflich zu einem Versuche geeignet sei. Ich wartete nun, um jenen flüchtigen Eindruck zu verwischen, etwa drei Jahre und ließ mir sodann das "Testament" in die Feder diktieren. Dabei machte ich fünf Fehler, von denen sich einer allerdings nicht im Duden fand; rechnet man diesen ab, so bleiben immer noch vier, für einen Lehrer jedenfalls sehr viel."
Wie sich Leo Weisgerber die Wartezeit verkürzt hat, ist nicht überliefert. Nach einem sofort schießenden Gedanken drei Jahre warten zu müssen, war gewiss hart. Er wird da gesessen und ungeduldig mit den Fingern auf dem professoralen Lehnstuhl getrommelt haben. Endlich, der Zeiger der Uhr rückte vor, drei Jahre waren um. „Sodann“ ließ Leo Weisgerber sich „Das Testament einer Mutter“ diktieren. Weisgerber (fünf Fehler!) berichtet weiter:
"Bald sollte sich jedoch zeigen, daß ich eigentlich eine glänzende Leistung vollbracht hatte. Der Versuch wurde nämlich zunächst an 30 Lehrern wiederholt; dabei betrug die geringste Fehlerzahl 4, die höchste 22,..., sodann wurde das Diktat von 8 Frauen, die sämtlich mindestens eine höhere Mädchenschule besucht hatten, niedergeschrieben, dabei machte eine Dame 13 Fehler, sodann stieg die Fehlerzahl sofort auf 22 und endlich bis auf 30. (...) Nicht viel besser war es bei 10 Herren mit akademischer Vorbildung (Mediziner, Juristen, Dozenten der Philosophie); ihre Arbeiten wiesen 14-30, im Durchschnitt 20 1/2 Fehler auf. 10 studierende Damen machten 12-21, und 12 studierende Herren 14-32 Fehler. Der einzige Oberlehrer, der sich dieser Prüfung unterzog, lieferte eine Arbeit mit 18 Fehlern." (Weisgerber 1955, S.54f)
Was war geschehen? Die selben Testpersonen hatte doch schon vor 1920 Kühnhagen getestet, mit exakt dem gleichen Ergebnis. Ein Hund lief in die Küche und stahl dem Koch ein Ei ... - die geistigen Wirren der Nazidiktatur hatten offenbar das Raum-Zeitkontinuum durcheinander gebracht. Irgendwo in einer galaktischen Zeitschleife saß nun ein trauriger Haufen von Opfern der Groß- und Kleinschreibung, Frauen, Damen, Akademiker, ..., um auf ewig das Kosog’sche Diktat zu versieben. Und ein „Oberlehrer“ war auch dabei. Doch wenn er schon der Zeitreise mächtig war, warum hatte Weisgerber dann nicht auch ein bisschen Nachhilfe in Stilkunde beim Kollegen Kühnhagen genommen? Oder war der angebliche neue Test ein kleiner Wissenschaftsbetrug, den Weisgerber sprachlich umständlich kaschieren musste? Vermutlich war er nur ein wenig zerstreut, man kennt das von Professoren. Dass er zur Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der unseligen SS-Forschungseinrichtung „Ahnenerbe“ gewesen war, hatte er nämlich auch vergessen, wie viele seiner Kollegen.

Die Kritik an der Großschreibung war und ist trotzdem berechtigt. Jacob Grimm hat sie schon formuliert und daher das berühmte Deutsche Wörterbuch in Kleinschreibung drucken lassen. Doch alle Versuche, die typographisch hässliche und orthographisch unsinnige Großschreibung abzuschaffen, sind kläglich gescheitert. In Dänemark dagegen nutzte man nach dem zweiten Weltkrieg die Gunst der Stunde des Neuanfangs und entledigte sich der „wertlosen Einfälle von Schreiberknechten“, wie der dänische Sprachforscher Otto Jespersen damals schrieb. Seither gibt es die Groß- und Kleinschreibung nur noch im deutschen Sprachraum.

Bei der jüngsten Orthographiereform hat man sich an die Groß- und Kleinschreibung gar nicht erst herangewagt. Die letzten Versuche wurden 1962 mit den Wiesbadener Empfehlungen und 1973 gemacht. Ein Sturm der Entrüstung fegte anschließend durch die Presse. Mit Zähnen und Klauen verteidigten deutschtümelnde Eiferer die wertlosen Einfälle der Schreiberknechte der Barockzeit als wesenhaften Bestandteil der deutschen Sprache. Mit herbei gesuchten Sätzen wie:
„wer ist bräutigam und braut zugleich?“ (der Bierbrauer)
„ich habe liebe genossen“ (liebe Genossen oder Liebe genossen)
„die schöne naht im nachtgewande“ (schöne Naht oder die Schöne naht)
versuchte man zu beweisen, dass die Großschreibung der Substantive für das Verständnis unumgänglich sei, womit die Deutschen dann offenbar die einzigen Blöden auf dem Erdball sind, die den Wortsinn nicht aus dem Zusammenhang erschließen können.

Daher muss sich unsere Industrienation vermutlich auf immer den Luxus von Orthographieregeln leisten, die niemand völlig beherrscht, nicht einmal der zweimal mit Kosogs Diktat getestete „Oberlehrer“.

Das Kosog'sche Diktat
1920 mal gelesen

Einiges über die Grenze des Sagbaren

„Die Stadt wird Zeitung“, schreibt die niederländische Punkdichterin Diana Ozon in einem Gedicht über Graffiti. Ihr Sprayer-Gedicht „Klick klick klick“ entstand in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Graffiti noch Botschaften transportierten. Heute überwiegen die unleserlichen Tags, die in etwa die Funktion von Revier- oder „Ich-war-hier-Marken“ haben. Eine Zeitung mit redaktionellen Inhalten ist das Straßenbild einer Stadt heute nicht mehr, sondern ein einziges großes Anzeigenblatt. Die Plakatanschläge dieses Anzeigenblattes werben und informieren nicht nur, sie geben überdies Zeugnis von einer Qualität der materiell verbreiteten Grafik und Schrift, die bei digital verbreiteten Texten fehlt. Die Texte der Wandzeitung altern, wie auf dem Foto zu sehen.

Zuerst war da nur der neutrale Anstrich des Hauses. Dann wurde das unleserliche rote Tag aufgesprüht. Darüber klebt das Plakat eines Aachener Event-Veranstalters. Das jüngste Plakat wirbt für ein Rockpalast-Konzert. Auf dem Kasten darunter sind die Zeitstufen noch dichter gestaffelt. Was nicht mehr gilt, ist überklebt und trotzdem weiterhin präsent, bis alles von Sturm und Regen oder vom Kasteneigner heruntergeholt wird. Dann sind die Plakate weg, und mit ihnen sind ihre Botschaften verschwunden.
Bitte ein wenig Geduld, der Text geht gleich weiter.
Die-Stadt-wird-Zeitung02

Schriftwelt im Abendrot
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Wie es euch gefällt - Sprachspiele für Opportunisten

Texte für Opportunisten erlauben zwei Lesarten. Blockweise von oben nach unten oder zeilenweise von links nach rechts gelesen, ergeben sie einen unterschiedlichen Sinn. Das erste Beispiel stammt aus dem Poesiealbum eines Heidelberger Studenten von 1817:

Opportunisten01

In unruhigen religiösen Zeiten empfahl sich dieses Bekenntnis, wahlweise zu Luther oder zum Papst:

Opportunisten02

An die antike Pasquino-Statue in der Nähe der Piazza Navona in Rom werden seit dem 15. Jahrhundert bis heute anonyme Spottverse über die aktuellen Machthaber, ihre Politik und ihre Skandale angeheftet. Der Pasquino diente vor allem in Zeiten, in denen die Meinungsfreiheit unterdrückt wurde, als Ventil für die Unzufriedenheit der Römer. (Wikipedia) Der folgende Text wurde 1848 von einem anonymen Spötter aufgehängt:

Opportunisten03

Das letzte Beispiel ist die Adaption eines Textes von Heiner Feldhoff aus dem Jahre 1977. Ursprünglich war er eine Satire auf den Radikalenerlass. Da heute niemand mehr davon spricht, habe ich den Text ein wenig aktualisiert. Jetzt eignet er sich eventuell als Festplatten-Begrüßungstext für den Verfassungsschutz:

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Schriftwelt im Abendrot
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Offener Tadel und geheimes Frauenlob

Wido sagte: "Hat Gott kein Mitleid mit den Toma? Andere Völker kennen die Schrift. Nur die Toma bleiben unwissend." Gott sprach: "Ich fürchte, daß ihr keine Achtung mehr vor dem Glauben und den Überlieferungen haben werdet, wenn ihr fähig seid, euch schriftlich auszudrücken." "Gar nicht", erwiderte Wido, "wir werden weiterleben wie vorher. Ich verspreche es." "Wenn es so ist", sagte Gott, "will ich euch die Kenntnis der Schrift gewähren, aber nehmt euch in acht, dass ihr sie nicht einer Frau verratet." (aus: Gelb,I.J.; A Study of Writing, Chicago 1952)
Es muss einmal gesagt werden, dass auch der Abt Johannes Trithemius nicht besonders gut über die Frauen dachte, und so warnt er in der Praefatio zur „Steganographia“, seine Geheimschrift, die Steganographie, bringe die eheliche Treue in Gefahr, denn mit Hilfe der Verschlüsselung könnte ein Liebhaber der untreuen Ehefrau geheime Botschaften zukommen lassen, „wobei der Ehemann noch den Überbringer machen und den Inhalt loben würde. Auf eben dieselbe Weise könnte die Frau ganz unbesorgt ihre Wünsche in beredeten Worten zurücksenden.“

Weil die Einstellung des Abtes zu den Frauen durchaus tadelnswert ist, zeige ich heute nicht seine Steganographie, sondern eine andere Geheimschrift: die "Freimaurerische Winkelschrift". Wer die Botschaft entschlüsselt, wird eine Ehrenrettung der Frau durch den Kaffeeröster Albert Darboven lesen können.
geheimschrift

Das Konstruktionsprinzip der Freimaurerischen Winkelschrift ist recht einfach, weshalb der Universalgelehrte Giambattista della Porta sie hochmütig als Schreibweise verspottete „derer sich Landleute, Dämchen und sogar Kinder bedienen könnten.“

Konstruktionsprinzip18 Buchstaben des Alphabets stehen paarweise in einer Matrix. Es fehlen „j“, „k“, „u“ und „w“, denn sie sind historisch gesehen erst später dem lateinischen Alphabet zugefügt worden. Das kleine „i“ ist ein Halbvokal und kann „i“ oder „j“ bedeuten, „c“ hat zwei Lautwerte, "c" oder „k“. Das „u“ ist ebenfalls ein Halbvokal und kann „u“, oder „v“ bedeuten. Mit dem doppelten „u“ kann man das „w“ schreiben. U-x-y-z haben eine eigene Matrix. Zum Verschlüsseln zeichnet man jeweils das zugehörige Winkelelement. Der 2. Buchstabe im jeweiligen Feld der ersten Matrix wird mit einem Punkt angezeigt. Zum Entschlüsseln liest man die Buchstaben aus den Matrixen aus. Das ist kinderleicht, kann jeder Landmann und erst recht jedes „Dämchen“. (Schriftwelt im Abendrot)
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Gib mir einen Stock, einen Schirm oder etwas Ähnliches

Es war ein seltsames Gefühl, in die menschenleere Buchhandlung zu gehen, derweil gegenüber im Elisengarten die Leute auf der Wiese lagen. Doch ich musste mir einen neuen Duden kaufen, denn mein Exemplar von 2004 ist leider veraltet.

Die Halbwertzeit der deutschen Orthographie ist in den Jahren seit der Reform deutlich gesunken. Zum 1. August 2006 wurden einige der Neuregelungen zurückgezogen, und glücklich, wer sich diese schimärenhaften Schreibweisen erst gar nicht angeeignet hat. Ob nun endlich Ruhe im Karton ist?

Wenn dir ein guter Freund auf der Straße begegnet, und er hat sich gerade eine Glatze rasieren lassen, dann bist du mit Recht eine Weile befremdet. Doch bleibt er auf Dauer kahlköpfig, gewöhnst du dich daran. So geht es natürlich auch mit den reformierten Schreibweisen. Und wenn die Schülergenerationen herangewachsen sind, die nach den jetzigen Regeln das Schreiben gelernt haben, werden einige in dieser Orthographie dichten oder lesenswerte Romane schreiben. Spätestens dann sind all jene Reformgegner der Torheit überführt, die behauptet haben, die Orthographiereform sei ein Anschlag auf die deutsche Sprache.

Mediterraner Müßiggang vor dem Café am Münsterplatz, - ich blättere im neuen Duden. Wer mag sich bei hochsommerlichen Temperaturen im April noch darüber ereifern, ob man „kennen lernen“ oder „kennenlernen“ schreiben soll? Die Reform verlangte ursprünglich die Getrenntschreibung. Ich muss zugeben, dass mir die Trennung des Begriffs glatzköpfig vorkam, als ich sie kürzlich in einem Manuskript überall dort angestrichen habe, wo sich die Autoren nicht hatten fügen wollen. Zum Glück habe ich mit Bleistift korrigiert und darf und kann jetzt alles wieder rückgängig machen. Die neue amtliche Rechtschreibung sieht zwar bei Verb+Verb-Zusammensetzungen weiterhin die Getrenntschreibung vor. Für „kennenlernen“ gilt jedoch seit 2006 eine Ausnahme. Man darf es sowohl zusammen als auch getrennt schreiben. Vermutlich war die Rücknahme von „kennen lernen“ ein Bauernopfer. Man hat diesen heiß umstrittenen Brocken den Kritikern zugeworfen, damit sie endlich Ruhe geben. Es gibt im neuen Duden noch weitere Bauernopfer zu besichtigen, denn um den Streit beizulegen, lässt die amtliche Schreibung jetzt eine Fülle von Doppelformen zu.

leicht02Im Duden von 2004 waren alle neuen Schreibweisen in rot gedruckt. Wegen der vielen neuen Doppelformen hat die Dudenredaktion in der 24. Auflage eine weitere Farbe eingeführt: „In allen Fällen, in denen die neue Rechtschreibung mehrere Schreibweisen zulässt, ist die von der Dudenredaktion empfohlene Schreibweise gelb unterlegt.“
(Hinweis zur WB-Benutzung)

Ziemlich buntscheckig ist die neue Orthographie. Eine solche Entwicklung hätte sich Konrad Duden nicht träumen lassen. Für das Gegenteil, die von ihm angestrebte Einheitsschreibung, hat er manchen Kompromiss machen müssen. Hundert Jahre nach der ersten amtlichen Rechtschreibung ist man im deutschen Sprachraum nicht mehr kompromissbereit genug, den Unsinn der Doppelformen zu vermeiden. Der Dudenverlag hat ja mit der Reform sein Monopol auf die amtliche Rechtschreibung verloren. Die gelb unterlegten Schreibweisen sind nur Empfehlungen. Andere Wörterbuchmacher legen die amtlichen Regeln eventuell anders aus. Deshalb müssen in den Redaktionen und Verlagen wieder Hausorthographien eingeführt werden, wenn man nicht verschiedene Schreibweisen nebeneinander gelten lassen will. Dieser an sich unerwünschte Nebeneffekt der verkorksten Reform könnte jedoch bewirken, dass die Deutschen ihre sprachmagische Fixierung auf „Rechtschreibung“ aufgeben und ein wenig mehr Toleranz walten lassen. Die Klimaerwärmung wird dabei helfen. "Wenn de Sonn schön schingt ..."

Es ist durchaus unterhaltsam, im Duden zu lesen, besonders wenn man bei einem Kaffee im Halbschatten lichtgrüner Bäume sitzt. Die Beispielsätze im Regelwerk sind wie kleine Romane aus der Abteilung „Linguistenpoesie“:

Kommaregeln bei Konjunktionen (K 111):
- „Mein Onkel, ein großer Tierfreund, sowie seine 14 Katzen leben jetzt in einer alten Mühle.“
- „Der Becher war außen wie innen vergoldet.“
- „Gib mir einen Stock, einen Regenschirm oder etwas Ähnliches.“

Solche Sätze beflügeln die Phantasie oder die Fantasie oder etwas Ähnliches.

Guten Abend
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Vöglein schlägt Papiertiger

Man könne der Evolution ja dankbar sein, dass Saurier nicht mehr in der Welt herumtrampeln, sondern hübsch verkleinert als Vöglein von Ast zu Ast hüpfen, sagte Coster. Doch das Zwitschern, Zirpen und Tirili oben auf dem Lousberg habe ihn oftmals ins grünende Gezweig aufschauen lassen, so dass er noch schlechter vorangekommen sei als am Vormittag.

Den Vormittag habe er auf der Dachterrasse verbracht, wo er über einem Manuskriptstapel gesessen und lektoriert habe. Unter dem luftigen Himmel sei er anfangs gut vorangekommen, habe sich leichtfüßig durch die Beiträge der verschiedenen Autoren bewegt und nur ab und zu etwas angestrichen - gleich dem übermütigen Wanderer, der Brennnesseln mit einem Stecken köpft.

Dann sei die Medizinstudentin von Parterre heraufgekommen und habe sich zu ihm gesetzt, um in einem medizinischen Fachbuch zu lesen. Zuerst habe er sich gestört gefühlt, doch dann habe er gemerkt, dass es sich durchaus beflügelnd auf seine Arbeit auswirkte, mit dieser Frau übereck am hölzernen Gartentisch zu sitzen und zu schweigen. Schon sei er milder mit den Sätzen der Autoren gewesen und habe ihnen so manches durchgehen lassen, wo unter anderen Umständen sein Bleistift grob hinein gefahren wäre.

Später sei die Tür zum Treppenhaus aufgegangen und ihr Freund, ein junger Arzt, habe sich zu ihnen gesellt. Der habe sogleich begonnen, seine Freundin abzuhören, allerdings nicht mit dem Stethoskop, sondern indem er sich das Medizinbuch griff. Er las ihr streng den fiktiven Zustand eines Patienten vor, zählte medizinische Messwerte auf und verlangte die Diagnose sowie eine Entscheidung über die zu treffenden Maßnahmen. Wenn sie die richtige Antwort gab, lobte er sie freundlich, um sofort den nächsten Patienten vorzuführen. Zwei-, dreimal lachten sie, weil der Patient ihr versehentlich gestorben war.

Er, Coster, habe gedacht, wie unterschiedlich die Welten doch seien. Die beiden Mediziner redeten von Lebensrettungsmaßnahmen für den akut am Herzen erkrankten Menschen. Er hingegen habe sich derweil mit der zu Buchstaben erstarrten Sprache eines Autors beschäftigen müssen, den er liebend gern erschlagen hätte. Da sei ihm sein Tun recht müßig erschienen, zumal ihm ständig Wörter wie „Herzinsuffizienz“, „Magnesiumgaben“ und „Defibrillation“ um die Ohren geflogen seien, was es ihm unmöglich gemacht habe, konzentriert zu lesen.

Seine verminderte Aufmerksamkeit habe erst recht die Schwäche des Textes offenbart. Ständig habe er an den Befund Mark Twains denken müssen, ein deutscher Durchschnittssatz handele "(...) von vierzehn oder fünfzehn verschiedenen Gegenständen, jeder in einer eigenen Parenthese eingeschlossen, mit zusätzlichen Parenthesen hier und da, die wiederum drei oder vier Unterparenthesen einschließen, so dass Hürden innerhalb der Hürden entstehen; schließlich werden alle Parenthesen und Unterparenthesen zwischen zwei Überparenthesen zusammengeballt, deren eine in der ersten Zeile des majestätischen Satzes liegt und die andere in der Mitte der letzten Zeile und danach kommt das Verb, und man bekommt zum ersten Mal heraus, wovon der Mann gesprochen hat. (...)"

Twains tröstenden Rat, deutsche Texte seien ziemlich leicht zu lesen, wenn man sich auf den Kopf stellt, um den Aufbau umzukehren, habe er leider nicht ausprobieren können, sagte Coster, denn die beiden Mediziner hätten dann vermutlich Notfallmaßnahmen an ihm vollzogen. Daher habe er sich verabschiedet und sei mit Duden und Manuskript im Rucksack auf den Lousberg hinaufgeradelt. Das ferne Dröhnen der Stadt zu seinen Füßen habe kaum gestört, wenn da die Sauriernachfahren nicht gewesen wären. Denn mit dem lustvollen Tschilpen der Vöglein habe keiner der Autoren des Manuskriptes sich messen können.
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Die Botschaft der Glasmurmel

Schaue ich beim Aufwachen gegen die hohe Decke, dann scheint dort eine farblose Glasmurmel zu lagern, der Schwerkraft zum Trotz. Ich habe keine Sorge, dass sie sich plötzlich der Physik besinnen und mir auf die Nase fallen könnte, denn ich weiß, - diese gläserne Murmel ist eigentlich eine kleine runde Mulde. Der Tag ist vorangeschritten, der Abend naht, und das Licht des Fensters gen Westen wirft einen Schatten in die Mulde. glasmurmel02Es kostet nur geringe Mühe, das Wissen um die Mulde zu verdrängen und stattdessen eine Glasmurmel zu sehen. Ich will das magische Bild, nicht die vermeintliche Einsicht in die wahre Gestalt der Dinge. Diese Einsicht ist nämlich ein bisschen auf den Hund gekommen. Zu oft hat sie sich als trügerisch erwiesen, wenn die Wissenschaft ihre eigene Lehrmeinung korrigieren musste. Was ist besser, eine Glasmurmel an der Decke zu sehen oder zu wissen, dass es nur eine kleine runde Deckenmulde ist, die den Anschein erweckt, eine Glasmurmel zu sein?

Der Medienphilosoph Vilém Flusser nimmt an, der Mensch müsse das alphabetische, lineare Denken aufgeben, wenn er sich im digitalen Zeitalter behaupten will. Will man diese theoretische Forderung begreifen und in Probehandeln umsetzen, führt jeder Schritt in die nur unscharf berechenbare Randzone. Was bedeutet es, nichtalphabetisch zu denken? Es hieße zu akzeptieren, dass an meiner Zimmerdecke eine Glasmurmel lagert.

Man wird sogleich verstehen, dass nichtalphabetisches Denken dem magischen Denken ähnelt. Nichtalphabetisches Denken ist bildhaft. Doch dieses bildhafte Denken entspricht nicht völlig dem magischen Denken des voralphabetischen Menschen. Denn der voralphabetische Mensch hat das lineare Denken noch nicht entdeckt. Logik, Aufklärung und Wissenschaft liegen noch jenseits seines Horizonts. Der alphabetisierte Mensch jedoch kennt beides und kann zwischen zwei Möglichkeiten der Wirklichkeitserfassung wählen. Ein neues Denken, wie Vilém Flusser es fordert, das ergibt sich, wenn man die bildhaft magische und die alphabetisch abstrakte Wirklichkeitserfassung kundig vereint.

Was bedeutet es, wenn sich an meiner Zimmerdecke eine Mulde befindet, die gleichzeitig eine Glasmurmel ist? Es zeigt sich hier, dass der Mensch fähig ist, beides zu sehen und beides zu denken. Neben der forschenden und kategorisierenden Aneignung der Welt bietet sich eine neue Symbiose an: die laterale, pataphysikalische Wirklichkeitsauffassung, die sowohl körperlich-magisch wie auch geistig-logisch ist.

Es scheint, dass es selbstgemachte Härten im menschlichen Dasein gibt, die aus der einseitigen Betrachtung der Dinge folgen. Ist der Mensch allein dem magischen Denken verhaftet, geht er geduckt unter der Bedrohung durch das Unwägbare. Vertraut er nur dem logischen Denken, verliert er die Bodenhaftung und es mangelt ihm an Gefühl, Empathie und Inspiration. Im Internet findet nachalphabetisches Denken bereits statt, dort wo man in digitalen Bildwelten versinken kann. Die Entwicklung dahin ist also nicht zu verhindern. Wie sich nachalphabetisches Denken positiv auswirken und zu einer tatsächlichen neuen Qualität des Denkens und Handelns werden kann, zeichnet sich noch nicht recht ab. Man bewegt sich wie gesagt in den nur unscharf berechenbaren Randzonen.

(Schriftwelt im Abendrot)
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