Kopfkino - Bitte geben Sie den Dingen einen Sinn

Aller innerster Sinn ist Sinn für Sinn.

Ein Zitat des Romantikers Novalis, bei Dr. Schein gelesen.

Der Gedanke, dass der Sinn aus dem Sinn für Sinn besteht, ist ziemlich verlockend. Er verlegt die Verantwortung für den Sinn ganz in den Menschen selbst. Er allein bestimmt in seiner Welt den Sinn, gibt den Dingen erst eine sinnvolle Bedeutung. Ein Romantiker wie Novalis sieht hierin vor allem die Verlockung, nämlich die abenteuerliche Grenzerweiterung des menschlichen Lebens und Erlebens. Denn nichts hindert ja den Menschen daran, den Dingen des Alltags eine eigenwillige Bedeutung zu geben, eine heiter-komische etwa oder eine geheimnisvolle.

Nüchtern betrachtet ist das Zitat ein Abgesang. Novalis macht eindeutig Schluss mit dem Sinn. Der innerste Sinn besteht aus Sinn für Sinn, - der Satz ist hermetisch. In ihm ist kein Platz für einen so genannten höheren Sinn von außen.

Mir gefällt das. Einerseits werde ich dadurch in die Verantwortung genommen, meiner Welt einen Sinn zu geben, anderseits habe ich die absolute Gestaltungsfreiheit, kann das zum Sinn erklären, was andere für Unsinn halten. Ein Freund, den ich aus den Augen verloren habe, hat zu seiner belgischen Villa wohl die längste Auffahrt Europas, vielleicht sogar der Welt. Sie reicht aus der Innenstadt von Aachen bis kurz vor Verviers in Belgien. Es handelt sich um seinen täglichen Weg zur Arbeit und zurück. Mein Freund erklärt: „Wenn ich mir sage, all die Leute in ihren Häusern entlang der langen Straße von Aachen bis zu meiner Haustür, die wohnen an meiner Auffahrt, ja, dann ist die lange Straße von Aachen bis zu mir meine Auffahrt.“ Soweit zur freien Sinngebung. Sie ist ein probates Verfahren, glücklich zu werden, ja, mein Freund schwört sogar darauf, dass sich das Leben meistens nach seinen Wünschen zu richten pflegt, weil er nämlich alles daran setzt, sich sein Leben gefügig zu machen.

Dem religiösen Menschen bietet Novalis nichts, nicht einmal Trost. Da gibt es kein höheres Wesen, keinen Sinn gebenden Gott. Es ist alles Menschenwerk, ersonnener Sinn. Warum sollten Menschen so etwas tun, sich einen eigenen Gott ersinnen, wo sie doch die Freiheit der Sinngebung haben? Warum sich künstlich schwächen und sich von einem imaginären Gott die Sinn-Regeln auferlegen zu lassen? Vermutlich hat es etwas mit Selbsterkenntnis zu tun: Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach. Wenn jeder nur seiner egoistischen Natur folgt, kann kein vernünftiges Gemeinwesen entstehen. Aber unter Egoisten diese Einsicht zu verbreiten, braucht es schon eine höhere Macht, also einen Gott als eine Sorte Übervater. Den sich zu denken, das kann manchmal sinnvoll sein. Friedliche Völker brauchen ihn kaum. Wo aber die Gewaltbereitschaft hoch ist, braucht man einen starken Gott. Und wie stärkt man ihn? Indem man andere zwingt, an ihn zu glauben. Mit diesem Eigensinn entfernt man sich zwangsläufig vom gewünschten Sinn.

Manchmal ist es also besser, gar keinen Sinn zu suchen. Ein Tisch ist ein Tisch, daran ich sitzen kann und meine Suppe löffeln. Und wenn ich sitze, sitze ich, und wenn ich löffle, löffle ich. Und das hier ist ein Blogeintrag. Er hat keinen höheren Sinn als den, dass ich eben erst über Sinn nachgedacht habe.
1703 mal gelesen
walhalladada - 7. Apr, 18:17

"Das ganze Geheimnis des Lebens läuft darauf hinaus, dass es keinerlei Sinn hat; dass aber jeder von uns dennoch einen ausfindig macht!"

(Émile Michel Cioran)

Die Frage, die sich mir immer wieder aufdrängt: 'Macht es überhaupt Sinn, die Sinnfrage zu stellen? Im Sinne des obigen Zitats müssen wir es wohl oder übel. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass Sie sich auf solch sinnige Art von mir zu Ihren Reflexionen haben anregen lassen.

Ich grüße Sie herzlich!

Trithemius - 8. Apr, 11:06

Ja, lieber Herr Doktor Schein,

erst heben Sie mich mit Ihrem Zitat auf den Gaul, und dann fragen Sie, ob es sinnvoll ist, den Klepper zu reiten. ;)

Es hat aber Spaß gemacht. Vielen Dank für die Anregung und schöne Grüße!
Mimiotschka - 7. Apr, 20:14

[...]"Mit diesem Eigensinn entfernt man sich zwangsläufig vom gewünschten Sinn."[...] Das ist wahr. Aber was ist gewünscht?

Trithemius - 8. Apr, 11:08

Das bezieht sich auf den Sinn einer Religion, nämlich den Menschen zu bessern und ihn zu einem Sozialwesen zu machen. Verzeihen Sie die knappe Diktion, die Ihre Nachfrage erst nötig machte. Aber mein Text war sowieso schon zu lang.
Mimiotschka - 8. Apr, 19:37

Na, wir wollen mal nicht so kleinlich sein.
Videbitis (Gast) - 12. Apr, 14:34

Sinn ist ja oft einfach offensichtlich, wenn man das, was man auf seinen Sinn abklopfen will, im jeweiligen Bezugsrahmen betrachtet: Es ist sinnvoller, sich beim Suppeessen hinzusetzen als zu stehen, ganz einfach weil der Weg des Löffels vom Teller zum Mund kürzer ist und nicht so viel danebengeht. Wird ein Gemeinwesen prinzipiell für notwendig befunden, ist es sinnvoller, sich zu seiner Verbesserung einzusetzen, als mit egoistischen Handlungen zu belasten, da es sonst wahrscheinlich irgendwann vor die Hunde geht.
Was ist aber der Bezugsrahmen für den "höheren Sinn"? Der Bezugsrahmen liegt im göttlichen Bereich; das Göttliche ist aber so definiert, daß es dem Menschen nicht zugänglich ist, kein Mensch kann also den Bezugsrahmen erkennen, auch kein Pastor oder Theologe (der sich nach seiner eigenen Theorie auch schwer versündigen würde, sich anzumaßen, Gottes Willen erkennen zu können). Höherer (=göttlicher, transzendenter) Sinn entzieht sich jeder menschlichen Erkenntnis, ist also absolut wertlos.

Ja. Sehr anregend, Dein Eintrag.

Trithemius - 12. Apr, 22:11

Vielen Dank dafür. Das ist eine lesenswerte Ergänzung.

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