Reisende unerwünscht - Dicke Hosen in Düsseldorf - Ein Fotobeweis verschwindet
von Trithemius - 14. Sep, 12:03
Pataphysische Forschungs- und Lesereise (6.1)
Essen – Kettwig – Ratingen – Düsseldorf – Neuss – Aachen
Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1 - Teil 2.2 - Teil 3.1 - Teil 3.2 -
Teil 4.1 - Teil 4.2 - Teil 5.1 - Teil 5.2
Wer sagt, ich hätte bei der letzten Strecke gemogelt und wäre in Neuss in den Zug nach Aachen gestiegen, dem schicke ich die berüchtigten Teppichhaus-Humorexperten auf den Hals. Aber es ging nicht anders. Ich bin in Essen zu spät losgefahren, habe mich zu lange an der schönen Ruhr gesonnt, in Ratingen konnte ich mich nicht vom feudalen Treiben losreißen, zuletzt hielt mich das Düsseldorfer Straßengewirr zurück. Ich würde lieber zehnmal in der Stromberger Schweiz um das eiserne Windrad kreisen, als mich noch einmal mit dem Rad durch Düsseldorf zu fädeln. Man bedenke, ich hatte dort eine aparte Begleitung, wurde eine Weile von einer attraktiven Blondine pilotiert. Und in der Stromberger Schweiz sah ich nur Kühe und Gänse.
Was aber vorher an meinen Kräften zehrt, ist der Anstieg aus dem Ruhrtal hinter Kettwig vor der Brücke. Das ist schon eine echte Bergprüfung. Immerhin scheint ganz prächtig die Sonne, so dass ich zum ersten Mal bei dieser Tour eine kurze Hose tragen kann. Aus den Eigenheimen entlang des engen, steilen Weges hat man gewiss einen schönen Blick auf das Ruhrtal, aber man muss es mögen, den Dachfirst zu haben, wo der Obernachbar in seinen Keller geht. Die wenigen Leute, die ich hier sehe, beäugen mich missmutig.
Ja, muss denn dieses Radfahrer-Gelumpe vorbeikommen? Wir sind hier gerne unter uns.
Auf dem Höhenrücken fahre ich durch ein vornehmes Neubaugebiet. Da hat man eine ziemlich breite Straße anlegen müssen, damit man sie nicht mit den Auffahrten der Anwesen verwechselt. Es rollt jetzt leicht ins weite Rheintal hinunter. Anfangs geht der Blick über die Rheinebene, doch bald tauche ich in den Wald Richtung Ratingen. Zweimal werde ich durch Autofahrer gefährdet. An einer Einmündung nimmt mir ein eiliger junger BMW-Fahrer ungerührt die Vorfahrt, und eine junge Mutter will mir mit dem Kotflügel ihrer Allradkarosse den Unterschenkel rasieren, weil sie noch nicht weiß, wie breit ihre Karre ist. Als Radfahrer muss man das locker an sich abtropfen lassen. Es gibt Lebenswelten, da passt man einfach nicht hinein.
Ratingen soll eine schöne Altstadt haben. Ich sehe nicht viel davon, als ich durch die Fußgängerzone schiebe, weil ich zu sehr durch den mondänen Trubel abgelenkt bin. Nirgendwo habe ich so viele gut betuchte Menschen gesehen wie in Ratingen. Die Geschäfte sehen ebenfalls teuer aus. Bänke gibt es kaum, denn wer sich hier in die Sonne setzen will, soll das gefälligst vor einem der vielen Restaurant oder Cafes tun. Am kleinen Platz vor einer Kirche sitze ich auf einer Art Truhe. Rechts von mir ist ein florierender Blumenstand. Da steht ein selbstgewisser, dicker rheinischer Bauer unter der Markise und verkauft, was er hat. Links parkt ein Ausstellungswagen für Schallschutzfenster. Ein Vertreter steht linkisch davor, guckt die Leute heischend an, wagt aber nicht, sie anzusprechen, geht mal ein paar Schritte hin und her, wechselt auf die andere Seite, steht rum, geht wieder auf und ab und weiß nicht wohin mit den Händen. Der Mann fühlt sich erkennbar unwohl in seinem grünbraunen Firmen-T-Shirt. Es ist in der Tat eine unansehnliche Farbkombination. Doch er müsste sich deshalb nicht schämen. Die Leute sehen ihn gar nicht. Sie tragen die Nasen so hoch, wie man es vermutlich nur in der Gegend von Düsseldorf kann. Ratinger geben sich nicht in der Öffentlichkeit mit Vertretern ab. Was hat den Mann bloß dazu getrieben, sich mit seinen Fenstern hierhin zu stellen? Wenn Ratingen seine letzte Hoffnung ist, kann er sich gleich erschießen.
Beim Schreiben über Ratingen habe ich mich gefragt, ob meine Eindrücke zutreffen oder ob ich mich von Stimmungen habe hinreißen lassen. Deshalb habe ich eine Weile recherchiert. Die Kaufkraft von Ratingen liegt gemessen am Bundesdurchschnitt bei 139 Prozent. Das wird nur noch vom Hochtaunuskreis und vom Landkreis Starnberg getoppt. Zum Vergleich: Düsseldorf 119,7 Prozent - Hannover 104 Prozent - Aachen 96,3 Prozent - Landkreis Uecker-Randow 73,5 Prozent (letzter Platz).
Am Ortsausgang biegt eine junge blonde Frau auf den Radweg ein. Sie trägt ein Kleid und Pumps und sitzt bequem aufgerichtet auf ihrem Rad, ist aber so schnell, dass ich eine Weile brauche, zu ihr aufzufahren. Ich bemühe mich nicht wirklich darum. Man soll mir nicht nachsagen, ich würde hinter jungen Blondinen herjagen. In Düsseldorf-Rath überhole ich sie, doch weil die Beschilderung lückenhaft ist, stehe ich bald ratlos herum, und da kommt sie wieder vorbei. Ob das die Radstrecke in die Innenstadt sei, frage ich. Sie lächelt beruhigend und sagt: „Ja, ich will auch dahin.“ Nachdem ich sie erneut hinter mir gelassen habe, stehe ich an der nächsten Kreuzung schon wieder still. Sie kommt heran und sagt: „Da lang!“ „Ich werde wohl besser hinter Ihnen herfahren“, sage ich. Düsseldorf ist die wahre Radfahrer-Diaspora. Mal gibt es einen Radweg, mal verliert er sich. Selbst die Blondine ist nicht immer sicher wie man am besten fährt, obwohl sie bis vor kurzem in Düsseldorf gewohnt hat. An ihrer alten Wohnung verlässt sie mich. Da fühle ich mich glatt ein bisschen verloren. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich vertraute Gebäude sehe und zum Rheinufer finde. Da halte ich mich nicht auf. Die Uferpromenade ist wirklich hübsch. Und ich liebe den Rhein. Aber das Schickimicki-Gehabe an der Promenade geht mir auf den Geist. Mit solchen Leuten will ich nicht unbedingt gesehen werden.
In der Nähe der Promenade liegt auch das Ministerium für Verkehr, Energie und Landesplanung von Nordrhein-Westfalen. Irgendwo im lichtlosen Innenhof amtiert der Fahrradbeauftragte des Verkehrsministers im Range eines Oberregierungsrates. Seine Karriere ist gescheitert, weshalb er nur noch lustlos herumsitzt. Sein Amtsbereich ist groß, da kann er nicht klagen. Er darf in ganz Nordrhein-Westfalen das Prädikat „Fahrradfreundliche Stadt“ vergeben. Seine Ehefrau betreibt zufällig ein Schildergeschäft. Morgens kommt der Oberregierungsrat in sein Büro, begrüßt die Putzfrau, als wäre sie seine persönliche Referentin, aber nicht aus Leutseligkeit, sondern in Ermangelung einer richtigen persönlichen Referentin. In seinem Büro liest er zuerst einmal Zeitung. Gegen elf Uhr macht er sich an die Arbeit, wirft einen Dartpfeil auf eine große NRW-Karte und trifft zum Beispiel in die Gegend von Menden. Dann lässt er sich von der Telefonzentrale mit dem Rathaus von Menden verbinden. „Wie lang ist euer Fahrradwegenetz?“ „Alles in allem 350 Meter!“ „Glückwunsch! Das ist wirklich stattlich, da kann ich euch das Prädikat ‚Fahrradfreundliche Stadt’ verleihen. Zum Schluss wählt er die Nummer seiner Frau und sagt: „Ruth, du kannst einen Satz Schilder für Menden drucken.“ Feierabend.
In Wahrheit kann die Landesregierung nicht einfach solche Prädikate vergeben. Die Städte müssen sich bei der "Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundliche Stadt" bewerben und Konzepte vorlegen. Und selbstverständlich sitzen im Ministerium für Verkehr, Energie und Landesplanung nur hoch qualifizierte Verkehrsexperten. Sie arbeiten sich dumm und krumm an der stetigen Verbesserung des Radwegenetzes von NRW, sitzen in Konferenzen, halten Vorträge, besichtigen Vorzeigestädte. Da fahren sie natürlich mit dem Dienstwagen hin, sonst wären sie ja Tage unterwegs. Wer aber einmal mit dem Fahrrad quer durch Düsseldorf fährt, der ahnt, was diese Leute vom Radfahren halten.
In Düsseldorf habe ich Verwandte. Als Kind fand ich sie besonders fein, weil Düsseldorfer die Bestätigungsformel „Ja“ benutzen. Das klingt viel besser als das „Ne“ der Kölner oder das „Wa“ der Aachener. Düsseldorfer sind aber nicht feiner als andere, sie halten nur mehr auf sich. Manche tadeln die Düsseldorfer als überheblich, selbstgefällig und arrogant. Der Tadel ist ungerecht. Arroganz fällt nicht vom Himmel. Diese krankhafte Verformung der Psyche ist das Ergebnis sozialer Prozesse. Hinter einem selbstgefälligen Menschen steckt immer jemand, der ihn aufs Podest gestellt hat. Wo hebt man Düsseldorf in den Himmel? In der wesentlich älteren Stadt Neuss, gleich gegenüber auf der anderen Rheinseite. Wer als Neusser etwas auf sich hält, orientiert sich in allem an Düsseldorf. Eine blöde Hose, die man bei Selbach exklusive Herrenmode auf der Düsseldorfer Königsallee gekauft hat, ist besser als eine schöne Hose von einem Herrenausstatter in Neuss. Ich habe in Neuss das Schriftsetzerhandwerk gelernt und weiß, wovon ich rede. Die Gesellen verdrehten schwärmerisch die Augen, wenn sie von Düsseldorf sprachen, und als einer von ihnen eine Stellung als Kontakter bei einer Düsseldorfer Werbeagentur gefunden hatte, war das, als würde er ins Paradies abwandern. In der Berufsschule erkrankte mein Deutschlehrer. Da belegte mein Chef einen Deutschabendkurs für mich, selbstverständlich in Düsseldorf. Weil der Düsseldorfer vom Neusser derart angehimmelt wird, bildet er sich ein, etwas Besonderes zu sein. Armer Düsseldorfer. Aber der Neusser ist nicht besser dran. Affenliebe bei Menschen und Unterwürfigkeit sind schließlich auch krankhaft.
Eigentlich will ich gar nicht nach Neuss. Ich fahre nur durch zum hässlichen Bahnhof. Da muss ich leider hin, um den Zug nach Aachen zu nehmen. Eigentlich will ich auch nicht Bahnfahren, aber ich bin müde. Außerdem will ich Thomas nicht zu lange warten lassen. Der steht nämlich im fernen Aachen in seinem Schweiß. Vier Stunden hat er seine Wohnung geputzt, und jetzt ist er fertig, ruft an und sagt, ich könnte kommen. Der Begrüßungssekt wäre schon kaltgestellt. Da rolle ich grad erst über die Rheinbrücke und mir ist klar, dass ich bis Aachen noch gut vier Stunden zu fahren hätte. Die Frau Nettesheim in mir protestiert und sagt, ich dürfte nicht mit der Bahn fahren und die pataphysische Reise derart stillos beenden.
Ach, Frau Nettesheim, es braucht doch keiner zu erfahren, dass ich ein Stück mit der Bahn gefahren bin. Bei der Tour de France haben sie das anfangs auch gemacht, als es die Kameraüberwachung noch nicht gab.
Im Fahrradabteil der Regionalbahn ist mir der Einwand völlig egal. Ich beglückwünsche mich zu diesem Entschluss, denn ich hänge in den Seilen und will nur noch nach Aachen, egal wie. Bekanntlich gibt es in den Fahrradabteilen Bänke, die man herunterklappen kann, falls da kein Fahrrad steht. Es geht aber auch umgekehrt. Man kann diese Bänke besetzen, so dass für Fahrräder kein Platz ist. Manche finden es hübsch im Fahrradabteil und sitzen da auch, wenn woanders freie Plätze sind. Es ist nämlich sehr unterhaltsam zu beobachten, wie müde Radfahrer versuchen, ihr Fahrrad irgendwie abzustellen. Mich rettet eine Japanerin. Sie kann Origami, nimmt ihr Fahrrad zu sich und faltet es zusammen. In Mönchengladbach steigen viele aus, und neue Radfahrer heben ihre Räder hinein. Zuvor sind die schnelleren Passagiere ohne Fahrrad eingestiegen und hocken sich wie selbstverständlich auf die Bänke. Das tut auch ein wirklich breiter Mann mit dicker Aktentasche. Beim Einsteigen hat er wohl eine junge Frau angestarrt, die mit ihrem Fahrrad sogleich an der Tür geblieben ist. Sie ruft: „Was guckst du so blöd?! Brauchst du eine Brille?!“ Und er klappt schnell den Sitz herunter, setzt sich und sagt: „Ich hab’ doch schon eine.“ Tatsächlich. Und er guckt hinfort sehr unglücklich durch, fühlt sich offenbar ungeliebt. Aber was muss er sich auch ins Fahrradabteil drängen. Manche sind zu ungeschickt, um beliebt zu sein. Er bräuchte einen Lehrmeister wie Jeremias Coster.
Coster erwartet mich in der Aachener Bahnhofshalle. Ach, nein, das ist Thomas. Bei ihm rutschen mir die Welten immer durcheinander. Vor Jahren habe ich für die erste Lesenacht im Teppichhaus die Figur des Jeremias Coster erdacht, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte an der RWTH Aachen. Später lernte ich Thomas kennen, und er gab der Figur erst richtig Farbe. Denn vieles, was ich Coster andichte, habe ich so ähnlich mit Thomas erlebt. Der Dichter erfindet nicht, er findet, und bei einem Internetdichter ist es nicht anders. Aber wie Thomas da freundlich lachend im Gewühle der Reisenden steht und meine Bahnfahrt mit der Kamera dokumentiert, das finde ich diesmal nicht wirklich gut. Zum Glück ist Thomas ein guter Freund. Er hat die Beweisfotos wohl vernichtet. Zumindest sind sie nicht auf der CD, die er mir geschickt hat mit den Bildern von meinem Aufenthalt in Aachen. Wer mir also nachsagt, ich wäre von Neuss nach Aachen mit dem Zug gefahren, dem schicke ich die berüchtigten Teppichhaus-Humorexperten auf den Hals.
Fortsetzung: Über Aachen - Kleiner Schornstein isst das Feuer - Ärgerliche Teilchenphysik
1960 mal gelesen
Essen – Kettwig – Ratingen – Düsseldorf – Neuss – Aachen
Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1 - Teil 2.2 - Teil 3.1 - Teil 3.2 -
Teil 4.1 - Teil 4.2 - Teil 5.1 - Teil 5.2
Wer sagt, ich hätte bei der letzten Strecke gemogelt und wäre in Neuss in den Zug nach Aachen gestiegen, dem schicke ich die berüchtigten Teppichhaus-Humorexperten auf den Hals. Aber es ging nicht anders. Ich bin in Essen zu spät losgefahren, habe mich zu lange an der schönen Ruhr gesonnt, in Ratingen konnte ich mich nicht vom feudalen Treiben losreißen, zuletzt hielt mich das Düsseldorfer Straßengewirr zurück. Ich würde lieber zehnmal in der Stromberger Schweiz um das eiserne Windrad kreisen, als mich noch einmal mit dem Rad durch Düsseldorf zu fädeln. Man bedenke, ich hatte dort eine aparte Begleitung, wurde eine Weile von einer attraktiven Blondine pilotiert. Und in der Stromberger Schweiz sah ich nur Kühe und Gänse.
Was aber vorher an meinen Kräften zehrt, ist der Anstieg aus dem Ruhrtal hinter Kettwig vor der Brücke. Das ist schon eine echte Bergprüfung. Immerhin scheint ganz prächtig die Sonne, so dass ich zum ersten Mal bei dieser Tour eine kurze Hose tragen kann. Aus den Eigenheimen entlang des engen, steilen Weges hat man gewiss einen schönen Blick auf das Ruhrtal, aber man muss es mögen, den Dachfirst zu haben, wo der Obernachbar in seinen Keller geht. Die wenigen Leute, die ich hier sehe, beäugen mich missmutig.
Ja, muss denn dieses Radfahrer-Gelumpe vorbeikommen? Wir sind hier gerne unter uns.
Auf dem Höhenrücken fahre ich durch ein vornehmes Neubaugebiet. Da hat man eine ziemlich breite Straße anlegen müssen, damit man sie nicht mit den Auffahrten der Anwesen verwechselt. Es rollt jetzt leicht ins weite Rheintal hinunter. Anfangs geht der Blick über die Rheinebene, doch bald tauche ich in den Wald Richtung Ratingen. Zweimal werde ich durch Autofahrer gefährdet. An einer Einmündung nimmt mir ein eiliger junger BMW-Fahrer ungerührt die Vorfahrt, und eine junge Mutter will mir mit dem Kotflügel ihrer Allradkarosse den Unterschenkel rasieren, weil sie noch nicht weiß, wie breit ihre Karre ist. Als Radfahrer muss man das locker an sich abtropfen lassen. Es gibt Lebenswelten, da passt man einfach nicht hinein.
Ratingen soll eine schöne Altstadt haben. Ich sehe nicht viel davon, als ich durch die Fußgängerzone schiebe, weil ich zu sehr durch den mondänen Trubel abgelenkt bin. Nirgendwo habe ich so viele gut betuchte Menschen gesehen wie in Ratingen. Die Geschäfte sehen ebenfalls teuer aus. Bänke gibt es kaum, denn wer sich hier in die Sonne setzen will, soll das gefälligst vor einem der vielen Restaurant oder Cafes tun. Am kleinen Platz vor einer Kirche sitze ich auf einer Art Truhe. Rechts von mir ist ein florierender Blumenstand. Da steht ein selbstgewisser, dicker rheinischer Bauer unter der Markise und verkauft, was er hat. Links parkt ein Ausstellungswagen für Schallschutzfenster. Ein Vertreter steht linkisch davor, guckt die Leute heischend an, wagt aber nicht, sie anzusprechen, geht mal ein paar Schritte hin und her, wechselt auf die andere Seite, steht rum, geht wieder auf und ab und weiß nicht wohin mit den Händen. Der Mann fühlt sich erkennbar unwohl in seinem grünbraunen Firmen-T-Shirt. Es ist in der Tat eine unansehnliche Farbkombination. Doch er müsste sich deshalb nicht schämen. Die Leute sehen ihn gar nicht. Sie tragen die Nasen so hoch, wie man es vermutlich nur in der Gegend von Düsseldorf kann. Ratinger geben sich nicht in der Öffentlichkeit mit Vertretern ab. Was hat den Mann bloß dazu getrieben, sich mit seinen Fenstern hierhin zu stellen? Wenn Ratingen seine letzte Hoffnung ist, kann er sich gleich erschießen.
Beim Schreiben über Ratingen habe ich mich gefragt, ob meine Eindrücke zutreffen oder ob ich mich von Stimmungen habe hinreißen lassen. Deshalb habe ich eine Weile recherchiert. Die Kaufkraft von Ratingen liegt gemessen am Bundesdurchschnitt bei 139 Prozent. Das wird nur noch vom Hochtaunuskreis und vom Landkreis Starnberg getoppt. Zum Vergleich: Düsseldorf 119,7 Prozent - Hannover 104 Prozent - Aachen 96,3 Prozent - Landkreis Uecker-Randow 73,5 Prozent (letzter Platz).
Am Ortsausgang biegt eine junge blonde Frau auf den Radweg ein. Sie trägt ein Kleid und Pumps und sitzt bequem aufgerichtet auf ihrem Rad, ist aber so schnell, dass ich eine Weile brauche, zu ihr aufzufahren. Ich bemühe mich nicht wirklich darum. Man soll mir nicht nachsagen, ich würde hinter jungen Blondinen herjagen. In Düsseldorf-Rath überhole ich sie, doch weil die Beschilderung lückenhaft ist, stehe ich bald ratlos herum, und da kommt sie wieder vorbei. Ob das die Radstrecke in die Innenstadt sei, frage ich. Sie lächelt beruhigend und sagt: „Ja, ich will auch dahin.“ Nachdem ich sie erneut hinter mir gelassen habe, stehe ich an der nächsten Kreuzung schon wieder still. Sie kommt heran und sagt: „Da lang!“ „Ich werde wohl besser hinter Ihnen herfahren“, sage ich. Düsseldorf ist die wahre Radfahrer-Diaspora. Mal gibt es einen Radweg, mal verliert er sich. Selbst die Blondine ist nicht immer sicher wie man am besten fährt, obwohl sie bis vor kurzem in Düsseldorf gewohnt hat. An ihrer alten Wohnung verlässt sie mich. Da fühle ich mich glatt ein bisschen verloren. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich vertraute Gebäude sehe und zum Rheinufer finde. Da halte ich mich nicht auf. Die Uferpromenade ist wirklich hübsch. Und ich liebe den Rhein. Aber das Schickimicki-Gehabe an der Promenade geht mir auf den Geist. Mit solchen Leuten will ich nicht unbedingt gesehen werden.
In der Nähe der Promenade liegt auch das Ministerium für Verkehr, Energie und Landesplanung von Nordrhein-Westfalen. Irgendwo im lichtlosen Innenhof amtiert der Fahrradbeauftragte des Verkehrsministers im Range eines Oberregierungsrates. Seine Karriere ist gescheitert, weshalb er nur noch lustlos herumsitzt. Sein Amtsbereich ist groß, da kann er nicht klagen. Er darf in ganz Nordrhein-Westfalen das Prädikat „Fahrradfreundliche Stadt“ vergeben. Seine Ehefrau betreibt zufällig ein Schildergeschäft. Morgens kommt der Oberregierungsrat in sein Büro, begrüßt die Putzfrau, als wäre sie seine persönliche Referentin, aber nicht aus Leutseligkeit, sondern in Ermangelung einer richtigen persönlichen Referentin. In seinem Büro liest er zuerst einmal Zeitung. Gegen elf Uhr macht er sich an die Arbeit, wirft einen Dartpfeil auf eine große NRW-Karte und trifft zum Beispiel in die Gegend von Menden. Dann lässt er sich von der Telefonzentrale mit dem Rathaus von Menden verbinden. „Wie lang ist euer Fahrradwegenetz?“ „Alles in allem 350 Meter!“ „Glückwunsch! Das ist wirklich stattlich, da kann ich euch das Prädikat ‚Fahrradfreundliche Stadt’ verleihen. Zum Schluss wählt er die Nummer seiner Frau und sagt: „Ruth, du kannst einen Satz Schilder für Menden drucken.“ Feierabend.
In Wahrheit kann die Landesregierung nicht einfach solche Prädikate vergeben. Die Städte müssen sich bei der "Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundliche Stadt" bewerben und Konzepte vorlegen. Und selbstverständlich sitzen im Ministerium für Verkehr, Energie und Landesplanung nur hoch qualifizierte Verkehrsexperten. Sie arbeiten sich dumm und krumm an der stetigen Verbesserung des Radwegenetzes von NRW, sitzen in Konferenzen, halten Vorträge, besichtigen Vorzeigestädte. Da fahren sie natürlich mit dem Dienstwagen hin, sonst wären sie ja Tage unterwegs. Wer aber einmal mit dem Fahrrad quer durch Düsseldorf fährt, der ahnt, was diese Leute vom Radfahren halten.
In Düsseldorf habe ich Verwandte. Als Kind fand ich sie besonders fein, weil Düsseldorfer die Bestätigungsformel „Ja“ benutzen. Das klingt viel besser als das „Ne“ der Kölner oder das „Wa“ der Aachener. Düsseldorfer sind aber nicht feiner als andere, sie halten nur mehr auf sich. Manche tadeln die Düsseldorfer als überheblich, selbstgefällig und arrogant. Der Tadel ist ungerecht. Arroganz fällt nicht vom Himmel. Diese krankhafte Verformung der Psyche ist das Ergebnis sozialer Prozesse. Hinter einem selbstgefälligen Menschen steckt immer jemand, der ihn aufs Podest gestellt hat. Wo hebt man Düsseldorf in den Himmel? In der wesentlich älteren Stadt Neuss, gleich gegenüber auf der anderen Rheinseite. Wer als Neusser etwas auf sich hält, orientiert sich in allem an Düsseldorf. Eine blöde Hose, die man bei Selbach exklusive Herrenmode auf der Düsseldorfer Königsallee gekauft hat, ist besser als eine schöne Hose von einem Herrenausstatter in Neuss. Ich habe in Neuss das Schriftsetzerhandwerk gelernt und weiß, wovon ich rede. Die Gesellen verdrehten schwärmerisch die Augen, wenn sie von Düsseldorf sprachen, und als einer von ihnen eine Stellung als Kontakter bei einer Düsseldorfer Werbeagentur gefunden hatte, war das, als würde er ins Paradies abwandern. In der Berufsschule erkrankte mein Deutschlehrer. Da belegte mein Chef einen Deutschabendkurs für mich, selbstverständlich in Düsseldorf. Weil der Düsseldorfer vom Neusser derart angehimmelt wird, bildet er sich ein, etwas Besonderes zu sein. Armer Düsseldorfer. Aber der Neusser ist nicht besser dran. Affenliebe bei Menschen und Unterwürfigkeit sind schließlich auch krankhaft.
Eigentlich will ich gar nicht nach Neuss. Ich fahre nur durch zum hässlichen Bahnhof. Da muss ich leider hin, um den Zug nach Aachen zu nehmen. Eigentlich will ich auch nicht Bahnfahren, aber ich bin müde. Außerdem will ich Thomas nicht zu lange warten lassen. Der steht nämlich im fernen Aachen in seinem Schweiß. Vier Stunden hat er seine Wohnung geputzt, und jetzt ist er fertig, ruft an und sagt, ich könnte kommen. Der Begrüßungssekt wäre schon kaltgestellt. Da rolle ich grad erst über die Rheinbrücke und mir ist klar, dass ich bis Aachen noch gut vier Stunden zu fahren hätte. Die Frau Nettesheim in mir protestiert und sagt, ich dürfte nicht mit der Bahn fahren und die pataphysische Reise derart stillos beenden.
Ach, Frau Nettesheim, es braucht doch keiner zu erfahren, dass ich ein Stück mit der Bahn gefahren bin. Bei der Tour de France haben sie das anfangs auch gemacht, als es die Kameraüberwachung noch nicht gab.
Im Fahrradabteil der Regionalbahn ist mir der Einwand völlig egal. Ich beglückwünsche mich zu diesem Entschluss, denn ich hänge in den Seilen und will nur noch nach Aachen, egal wie. Bekanntlich gibt es in den Fahrradabteilen Bänke, die man herunterklappen kann, falls da kein Fahrrad steht. Es geht aber auch umgekehrt. Man kann diese Bänke besetzen, so dass für Fahrräder kein Platz ist. Manche finden es hübsch im Fahrradabteil und sitzen da auch, wenn woanders freie Plätze sind. Es ist nämlich sehr unterhaltsam zu beobachten, wie müde Radfahrer versuchen, ihr Fahrrad irgendwie abzustellen. Mich rettet eine Japanerin. Sie kann Origami, nimmt ihr Fahrrad zu sich und faltet es zusammen. In Mönchengladbach steigen viele aus, und neue Radfahrer heben ihre Räder hinein. Zuvor sind die schnelleren Passagiere ohne Fahrrad eingestiegen und hocken sich wie selbstverständlich auf die Bänke. Das tut auch ein wirklich breiter Mann mit dicker Aktentasche. Beim Einsteigen hat er wohl eine junge Frau angestarrt, die mit ihrem Fahrrad sogleich an der Tür geblieben ist. Sie ruft: „Was guckst du so blöd?! Brauchst du eine Brille?!“ Und er klappt schnell den Sitz herunter, setzt sich und sagt: „Ich hab’ doch schon eine.“ Tatsächlich. Und er guckt hinfort sehr unglücklich durch, fühlt sich offenbar ungeliebt. Aber was muss er sich auch ins Fahrradabteil drängen. Manche sind zu ungeschickt, um beliebt zu sein. Er bräuchte einen Lehrmeister wie Jeremias Coster.
Coster erwartet mich in der Aachener Bahnhofshalle. Ach, nein, das ist Thomas. Bei ihm rutschen mir die Welten immer durcheinander. Vor Jahren habe ich für die erste Lesenacht im Teppichhaus die Figur des Jeremias Coster erdacht, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte an der RWTH Aachen. Später lernte ich Thomas kennen, und er gab der Figur erst richtig Farbe. Denn vieles, was ich Coster andichte, habe ich so ähnlich mit Thomas erlebt. Der Dichter erfindet nicht, er findet, und bei einem Internetdichter ist es nicht anders. Aber wie Thomas da freundlich lachend im Gewühle der Reisenden steht und meine Bahnfahrt mit der Kamera dokumentiert, das finde ich diesmal nicht wirklich gut. Zum Glück ist Thomas ein guter Freund. Er hat die Beweisfotos wohl vernichtet. Zumindest sind sie nicht auf der CD, die er mir geschickt hat mit den Bildern von meinem Aufenthalt in Aachen. Wer mir also nachsagt, ich wäre von Neuss nach Aachen mit dem Zug gefahren, dem schicke ich die berüchtigten Teppichhaus-Humorexperten auf den Hals.
Fortsetzung: Über Aachen - Kleiner Schornstein isst das Feuer - Ärgerliche Teilchenphysik
Die schönste Lösung, an die ich mich erinnere:
Ich sage laut und wütend: So ein Mist, die DB ist aber immer für Überraschungen gut. Das dieser Zug ausgerechnet heute über Wolfsburg umgeleitet wird, stinkt mir gewaltig! (Es sind tatsächlich 2 aufgesprungen und sind zum Schaffner auf den Bahnsteig geeilt.
Zwischendurch eine OffTopicFrage:
Ich habe Ihre unscharf berechenbare Randzone geklaut - darf ich sie behalten, bezahlen, leihen oder muss ich sie wieder rausrücken?
Tatort: http://bit.ly/cQQFDA
Gruß Heinrich
Sie haben übrigens exakt gemacht, was im Motto des Teppichhauses empfohlen wird: "Klaut alles!" Und da Sie den Spruch mit einem Quellenhinweis versehen haben, ist's ja sowieso Werbung.