Gib mir einen Stock, einen Schirm oder etwas Ähnliches
von Trithemius - 16. Apr, 20:21
Es war ein seltsames Gefühl, in die menschenleere Buchhandlung zu gehen, derweil gegenüber im Elisengarten die Leute auf der Wiese lagen. Doch ich musste mir einen neuen Duden kaufen, denn mein Exemplar von 2004 ist leider veraltet.
Die Halbwertzeit der deutschen Orthographie ist in den Jahren seit der Reform deutlich gesunken. Zum 1. August 2006 wurden einige der Neuregelungen zurückgezogen, und glücklich, wer sich diese schimärenhaften Schreibweisen erst gar nicht angeeignet hat. Ob nun endlich Ruhe im Karton ist?
Wenn dir ein guter Freund auf der Straße begegnet, und er hat sich gerade eine Glatze rasieren lassen, dann bist du mit Recht eine Weile befremdet. Doch bleibt er auf Dauer kahlköpfig, gewöhnst du dich daran. So geht es natürlich auch mit den reformierten Schreibweisen. Und wenn die Schülergenerationen herangewachsen sind, die nach den jetzigen Regeln das Schreiben gelernt haben, werden einige in dieser Orthographie dichten oder lesenswerte Romane schreiben. Spätestens dann sind all jene Reformgegner der Torheit überführt, die behauptet haben, die Orthographiereform sei ein Anschlag auf die deutsche Sprache.
Mediterraner Müßiggang vor dem Café am Münsterplatz, - ich blättere im neuen Duden. Wer mag sich bei hochsommerlichen Temperaturen im April noch darüber ereifern, ob man „kennen lernen“ oder „kennenlernen“ schreiben soll? Die Reform verlangte ursprünglich die Getrenntschreibung. Ich muss zugeben, dass mir die Trennung des Begriffs glatzköpfig vorkam, als ich sie kürzlich in einem Manuskript überall dort angestrichen habe, wo sich die Autoren nicht hatten fügen wollen. Zum Glück habe ich mit Bleistift korrigiert und darf und kann jetzt alles wieder rückgängig machen. Die neue amtliche Rechtschreibung sieht zwar bei Verb+Verb-Zusammensetzungen weiterhin die Getrenntschreibung vor. Für „kennenlernen“ gilt jedoch seit 2006 eine Ausnahme. Man darf es sowohl zusammen als auch getrennt schreiben. Vermutlich war die Rücknahme von „kennen lernen“ ein Bauernopfer. Man hat diesen heiß umstrittenen Brocken den Kritikern zugeworfen, damit sie endlich Ruhe geben. Es gibt im neuen Duden noch weitere Bauernopfer zu besichtigen, denn um den Streit beizulegen, lässt die amtliche Schreibung jetzt eine Fülle von Doppelformen zu.
Im Duden von 2004 waren alle neuen Schreibweisen in rot gedruckt. Wegen der vielen neuen Doppelformen hat die Dudenredaktion in der 24. Auflage eine weitere Farbe eingeführt: „In allen Fällen, in denen die neue Rechtschreibung mehrere Schreibweisen zulässt, ist die von der Dudenredaktion empfohlene Schreibweise gelb unterlegt.“
(Hinweis zur WB-Benutzung)
Ziemlich buntscheckig ist die neue Orthographie. Eine solche Entwicklung hätte sich Konrad Duden nicht träumen lassen. Für das Gegenteil, die von ihm angestrebte Einheitsschreibung, hat er manchen Kompromiss machen müssen. Hundert Jahre nach der ersten amtlichen Rechtschreibung ist man im deutschen Sprachraum nicht mehr kompromissbereit genug, den Unsinn der Doppelformen zu vermeiden. Der Dudenverlag hat ja mit der Reform sein Monopol auf die amtliche Rechtschreibung verloren. Die gelb unterlegten Schreibweisen sind nur Empfehlungen. Andere Wörterbuchmacher legen die amtlichen Regeln eventuell anders aus. Deshalb müssen in den Redaktionen und Verlagen wieder Hausorthographien eingeführt werden, wenn man nicht verschiedene Schreibweisen nebeneinander gelten lassen will. Dieser an sich unerwünschte Nebeneffekt der verkorksten Reform könnte jedoch bewirken, dass die Deutschen ihre sprachmagische Fixierung auf „Rechtschreibung“ aufgeben und ein wenig mehr Toleranz walten lassen. Die Klimaerwärmung wird dabei helfen. "Wenn de Sonn schön schingt ..."
Es ist durchaus unterhaltsam, im Duden zu lesen, besonders wenn man bei einem Kaffee im Halbschatten lichtgrüner Bäume sitzt. Die Beispielsätze im Regelwerk sind wie kleine Romane aus der Abteilung „Linguistenpoesie“:
Kommaregeln bei Konjunktionen (K 111):
- „Mein Onkel, ein großer Tierfreund, sowie seine 14 Katzen leben jetzt in einer alten Mühle.“
- „Der Becher war außen wie innen vergoldet.“
- „Gib mir einen Stock, einen Regenschirm oder etwas Ähnliches.“
Solche Sätze beflügeln die Phantasie oder die Fantasie oder etwas Ähnliches.
Guten Abend
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Die Halbwertzeit der deutschen Orthographie ist in den Jahren seit der Reform deutlich gesunken. Zum 1. August 2006 wurden einige der Neuregelungen zurückgezogen, und glücklich, wer sich diese schimärenhaften Schreibweisen erst gar nicht angeeignet hat. Ob nun endlich Ruhe im Karton ist?
Wenn dir ein guter Freund auf der Straße begegnet, und er hat sich gerade eine Glatze rasieren lassen, dann bist du mit Recht eine Weile befremdet. Doch bleibt er auf Dauer kahlköpfig, gewöhnst du dich daran. So geht es natürlich auch mit den reformierten Schreibweisen. Und wenn die Schülergenerationen herangewachsen sind, die nach den jetzigen Regeln das Schreiben gelernt haben, werden einige in dieser Orthographie dichten oder lesenswerte Romane schreiben. Spätestens dann sind all jene Reformgegner der Torheit überführt, die behauptet haben, die Orthographiereform sei ein Anschlag auf die deutsche Sprache.
Mediterraner Müßiggang vor dem Café am Münsterplatz, - ich blättere im neuen Duden. Wer mag sich bei hochsommerlichen Temperaturen im April noch darüber ereifern, ob man „kennen lernen“ oder „kennenlernen“ schreiben soll? Die Reform verlangte ursprünglich die Getrenntschreibung. Ich muss zugeben, dass mir die Trennung des Begriffs glatzköpfig vorkam, als ich sie kürzlich in einem Manuskript überall dort angestrichen habe, wo sich die Autoren nicht hatten fügen wollen. Zum Glück habe ich mit Bleistift korrigiert und darf und kann jetzt alles wieder rückgängig machen. Die neue amtliche Rechtschreibung sieht zwar bei Verb+Verb-Zusammensetzungen weiterhin die Getrenntschreibung vor. Für „kennenlernen“ gilt jedoch seit 2006 eine Ausnahme. Man darf es sowohl zusammen als auch getrennt schreiben. Vermutlich war die Rücknahme von „kennen lernen“ ein Bauernopfer. Man hat diesen heiß umstrittenen Brocken den Kritikern zugeworfen, damit sie endlich Ruhe geben. Es gibt im neuen Duden noch weitere Bauernopfer zu besichtigen, denn um den Streit beizulegen, lässt die amtliche Schreibung jetzt eine Fülle von Doppelformen zu.
Im Duden von 2004 waren alle neuen Schreibweisen in rot gedruckt. Wegen der vielen neuen Doppelformen hat die Dudenredaktion in der 24. Auflage eine weitere Farbe eingeführt: „In allen Fällen, in denen die neue Rechtschreibung mehrere Schreibweisen zulässt, ist die von der Dudenredaktion empfohlene Schreibweise gelb unterlegt.“
(Hinweis zur WB-Benutzung)
Ziemlich buntscheckig ist die neue Orthographie. Eine solche Entwicklung hätte sich Konrad Duden nicht träumen lassen. Für das Gegenteil, die von ihm angestrebte Einheitsschreibung, hat er manchen Kompromiss machen müssen. Hundert Jahre nach der ersten amtlichen Rechtschreibung ist man im deutschen Sprachraum nicht mehr kompromissbereit genug, den Unsinn der Doppelformen zu vermeiden. Der Dudenverlag hat ja mit der Reform sein Monopol auf die amtliche Rechtschreibung verloren. Die gelb unterlegten Schreibweisen sind nur Empfehlungen. Andere Wörterbuchmacher legen die amtlichen Regeln eventuell anders aus. Deshalb müssen in den Redaktionen und Verlagen wieder Hausorthographien eingeführt werden, wenn man nicht verschiedene Schreibweisen nebeneinander gelten lassen will. Dieser an sich unerwünschte Nebeneffekt der verkorksten Reform könnte jedoch bewirken, dass die Deutschen ihre sprachmagische Fixierung auf „Rechtschreibung“ aufgeben und ein wenig mehr Toleranz walten lassen. Die Klimaerwärmung wird dabei helfen. "Wenn de Sonn schön schingt ..."
Es ist durchaus unterhaltsam, im Duden zu lesen, besonders wenn man bei einem Kaffee im Halbschatten lichtgrüner Bäume sitzt. Die Beispielsätze im Regelwerk sind wie kleine Romane aus der Abteilung „Linguistenpoesie“:
Kommaregeln bei Konjunktionen (K 111):
- „Mein Onkel, ein großer Tierfreund, sowie seine 14 Katzen leben jetzt in einer alten Mühle.“
- „Der Becher war außen wie innen vergoldet.“
- „Gib mir einen Stock, einen Regenschirm oder etwas Ähnliches.“
Solche Sätze beflügeln die Phantasie oder die Fantasie oder etwas Ähnliches.
Guten Abend