Mein surrealer Alltag (13) - Windgeist

Ich hatte Kerzen angezündet, so dass ich, als beide verloschen, im Dunkeln saß. Die Flämmchen hatten sich zuerst der Tür zugeneigt. Dann rissen sie sich los, um wild zu taumeln. Zuletzt wurden sie niedergedrückt und verrauchten. Von einem Docht stob noch ein kleiner Funke. Das alles rührte von einem deutlichen Luftzug her, als hätte jemand die Tür aufgerissen und wäre durch den Raum geeilt. Zu den Kerzen hin.

Mein surrealer Alltag

Die Hopi-Indianer, habe ich gelernt, kennen für Naturvorgänge keine Substantive, sondern nur verbale Phrasen, sagen nicht „der Regen“, sondern „es regnet“. Das entspricht der Vergänglichkeit solcher Erscheinungen wie Regen und Wind. Deshalb würde ein Hopi-Kind nicht auf die Idee kommen, zu fragen: „Was macht der Wind, wenn er nicht weht?“ In seiner Welt windet und regnet es, und dieses „es“ bleibt ungenannt. Die Substantivierung hingegen macht Wind und Regen zu Personen.

Ich möchte mir den Herrn Wind ungern denken als Kerl im wehenden Mantel, der einfach durch meine Stube eilt und mir die Kerzen auslöscht. Man stelle sich einen anhaltenden Sturmwind aus Westen vor als ein Heer solcher Gestalten. Vom Atlantik her über Belgien und die Niederlande ergießt sich das finstere Heer ins Land, sie kommen die Straße hoch, legen die Stromversorgung lahm und umzingeln dein Haus.

Einer von ihnen dringt durch die Haustür, in deine Wohnung, in dein Zimmer - und erstickt mit seinem Mantel deine einzigen Kerzen, so dass du im Finstern sitzt und dich fragst: Was, zum Teufel, soll das?
2156 mal gelesen
Mimiotschka - 27. Apr, 17:02

Eine wirklich unheimliche Beschreibung. Ich glaube, dass die Personifizierung von Naturereignissen etwas mit der monotheistischen Gesellschaft zu tun hat. Eine Art Verschmelzung von Verursacher und Wirkung, oder so ähnlich.

Trithemius - 28. Apr, 10:15

Die Personifizierung von Naturereignissen ist gewiss eine verbreitete Form des magischen Denkens. Zuletzt war so etwas wieder bei BILD zu lesen, als man vom "Killervulkan" schrieb.
kraM - 28. Apr, 11:09

und vom aschemonster, auch sehr schön

btw hab ich sowas ähnliches grad in einem buch über sprachphilosophie gelesen, ich glaube sogar auch über die hopi. zufälle gibts. :)
Trithemius - 30. Apr, 17:01

"Aschemonster", danke für den Hinweis. Über Zufälle sagt Kurt Schwitters: „Es gibt keine Zufälle. Eine Tür kann zufallen, aber das ist kein Zufall, sondern ein bewusstes Erlebnis der Tür, die Tür, die Tür, der Tür…“
Videbitis (Gast) - 27. Apr, 23:16

Schaurig, so ein Herr Wind ist ja der reinste Albtraum. Als norddeutsches Küstenkind habe ich den Wind immer als verspielten Halbstarken angesehen: Er spielte gern mit meinen Haaren, brachte einen angenehmen Duft mit und Kühlung im heißen Sommer. Im Winter pfiff er warnend ums Haus, damit man schon drinnen blieb. Nur manchmal war er richtig gemein, wenn ich auf dem Rad ins 7 km entfernte Strandbad wollte, über flaches Land, aber mit so viel ärgelichem Gegenwind, daß ich doppelt so lange brauchte wie normal, was mich vor lauter Wut zum Heulen brachten. Unbarmherzig wie manchmal ein Halbstarker konnte er mich zu Weißglut bringen, dann aber auch im Herbst so stark mit einem ringen, daß man sich voller Vergnügen gegen ihn lehnen konnte, ohne daß er einen umwarf. Das er in dieser Verfassung auch Dächer von den Häusern hob war sicherlich nur ein Versehen.

Trithemius - 28. Apr, 10:12

Der Wind als Halbstarker, mit dem man ringen kann, das ist zweifellos ein schöneres Bild als meines. Vielen Dank für die eindrucksvolle Schilderung.
webgeselle - 28. Apr, 14:41

Doch wieder Poesie!


Und was für welche, hach...

Hm. - "Es menscht"... (???)...

Diese Personifizierung hat aber was... Vor allem soll sie wohl den Schrecken dämpfen, der von allem Namenlosen ausgeht...
 

Trithemius - 28. Apr, 21:45

Dankeschön, Sir!

War ein Versehen. ;) Der gedämpfte Schrecken, das entspricht der Regel und Einsicht: "Benannt, Gebannt!"!
bill (Gast) - 30. Apr, 18:13

@webgeselle

In Echt ist der Herr Trithemius bestimmt gar nicht wie er hier so tut. Im tiefsten seines Inneren ist er Dichter :D
webgeselle - 1. Mai, 22:39

Wasnjetzlos?


Alle Leute entschuldigen sich neuerdings dauernd... Habe ich wieder irgend einen Welttag verpasst?

(... ich glaube, ich habe das schon mal gesagt... das Alter ist furchtbar fürwahr... - das habe ich auch schon gesagt...)

@bill: Nö nö - die Poesie ist schon längst in die äußeren Lagen vorgedrungen (bildlich gesprochen: ich gehe jetzt vom Bild eines gerollten Teppichs aus, was ja nicht ganz verfehlt sein kann)... . Deucht mich!
 
Mimiotschka - 2. Mai, 15:29

Höchstens den heutigen WeltLACHtag.
Trithemius - 3. Mai, 13:41

@ Bill
Nachdem sich der Satiriker Robert Gernhardt leichtfertig "Dichter" nannte, ist er auch schon bald gestorben.
Trithemius - 3. Mai, 13:42

@ Mimiotschka,

hab's leider asuch nicht gewusst und versehentlich den ganzen Tag geweint.
bill (Gast) - 13. Mai, 10:31

@webgeselle

jep, dabei hat er sich nur ein bisschen verwickelt. Aber is ja nicht so schlimm :-)) lg
bill (Gast) - 13. Mai, 10:32

@Trithemius

Dichter lügen zuviel ;)
Trithemius - 13. Mai, 12:05

@ Bill
Worin sie den Märchenerzählern in der Politik ähneln.

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