Schreiben wie blöd - FAZ.net auf Bauernfang

zirkus schlechten GeschmacksAm Sonntag, dem 10. Oktober 2010, saß der US-amerikanische Soul- und Rhythm-and-Blues-Sänger Solomon Burke in einem Flugzeug aus Los Angeles mit Ziel Amsterdam. Während der Landung auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol verstarb er an einem Herzanfall.

Nachdem der flämische Musiksender Studio Brussel den tragischen Todesfall zeitnah gemeldet hatte, sang Solomon Burke den von ihm komponierten Titel „Everybody Needs Somebody to Love“, eine beachtliche Leistung für einen Toten. Er wird wohl noch nicht ganz kalt gewesen sein.

Weil die Medien über gottgleiche Fähigkeiten verfügen, weil sie über den Tod hinaus jeden noch einmal auf die Bühne zerren können sooft sie wollen, wunderte ich mich kaum, als ich im Blog von Mimiotschka die Titelzeile las: „Kafka schreibt bei BILD“. Irgendwie werden die Halunken ihn reanimiert haben, dachte ich, haben ihm Blatt und Feder in die Hand gedrückt, und schon brachte der fügsame Franz seine kafkaesken Sätze zu Papier. Es war aber anders. Mimiotschka hatte einen Text aus BILD von einem Programm testen lassen, das man bei Faz.net finden kann. Faz.net wirbt:
„Ich schreibe wie … Franz Kafka? Oder eher wie Ildiko von Kürthy, Ingeborg Bachmann, Maxim Biller? Oder schreibe ich wie Goethe? Wenn Sie wissen wollen, ob Sie Stil haben und wenn ja: welchen - dann gibt es jetzt endlich eine absolut sichere und unbestechliche Messmethode. (…)“
Mit dieser absolut sicheren und unbestechlichen Messmethode hat das Testprogramm also Franz Kafkas würdige Nachfolger gefunden: die verschmockten BILD-Schreiberknechte. Bei einem Test, den der Kollege Noemix anschließend mit Schillers „Lied von der Glocke“ machte, kam an den Tag, die Ballade stammt eigentlich von Goethe.

Was haben sich die Redakteure von Faz.net dabei gedacht, ein derart lachhaftes Tool bereitzustellen? Sie rechnen mit der Eitelkeit der Internetnutzer, und ein Blick in die Blogosphäre zeigt, dass dieser Test sich großer Beliebtheit erfreut. Blogger vermelden, sie würden wie Rainald Goetz schreiben, wie Nietzsche, Charlotte Roche oder wie der unsägliche Maxim Biller. Mal abgesehen davon, dass dieses Programm nicht kann, was FAZ.net vollmundig verspricht, seit wann ist ein nachgemachter Schreibstil ein Qualitätsmerkmal? Offenbar handelt es sich um eine versteckte Werbeaktion für den Buchhandel, denn wer erfahren hat, in wessen Stil er angeblich schreibt, wird auf die entsprechenden Buchrezensionen in der FAZ hingewiesen. So geht Qualitätsjournalismus.

Das Testprogramm ist eine Adaption des englischen "I Write Like" von Coding Robots und stammt in der deutschen Fassung von Scribando, einem Literatur-Marketingunternehmen mit Sitz in Wien. Scribando preist seine Leistungen an mit den ulkigen Worten: „Kung Fu für eine neue Schriftstellergeneration“. Kung Fu beim Schreiben? Wie geht das? Muss man einen Stapel Dachziegel mit dem Kopf zerdeppern, um Mitglied dieser neuen Schriftstellergeneration zu werden? Ich wollte deren Hirnriss nicht lesen.

Abgelegt unter: Zirkus des schlechten Geschmacks

Ich schreibe wie Rainald Goetz an den Presserat
2142 mal gelesen
Mimiotschka - 13. Okt, 11:06

Herrlich. Ich will auch nicht sehen, was aus so einer klaffenden Dachziegelverletzung herausquillt. Mich überrascht es beinahe nicht, dass es nur um Bauernfängerei geht.
Danke für den schönen Zirkus, Verehrtester.

Trithemius - 13. Okt, 13:23

Gerne

Wenn du nicht die wunderbare Vorarbeit geleistet hättest mit deinem entlarvenden Test, worauf ich auch nicht gekommen wäre, hätte ich mich gar nicht weiter drum gekümmert, Verehrteste.
Careca - 13. Okt, 12:45

Soll ich mich schuldig bekennen? Mich Bauer hat die FAZ ebenfalls gefangen gehabt. Bauch- Pinseleien verkaufen sich immer gut. Auf die Idee mal BLÖD- Zeitungstexte durch deren Algorithmus laufen zu lassen, kam ich nicht. Klasse Idee. Interessant ist auch, seit wann dieses bei der FAZ verfügbar ist. Sie stellte es zum 2. Oktober ins Netz, denn es herrschte absolute Saure-Gurkenzeit bei den Wochenendmeldungen. Dank Wulf wurde der 3. Oktober medientechnisch wieder interessant. Es grüßt ein Gefangener der FAZ-Bauernfangerei. Ja, dieser Algorithmus ist wirklich schlechten Geschmacks.

Trithemius - 13. Okt, 13:15

Vermutlich besteht auch ein Zusammenhang des Veröffentlichungstermins mit der Frankfurter Buchmesse. Interessant ist die geringe Auswahl der Autoren, deren Stil man angeblich hat. Demnach wäre zu vermuten, die Seite bei FAZ.net wird von den Verlagen bezahlt, bei denen die Autoren veröffentlichen. Das wären u.a. Suhrkamp, S.Fischer, Kiepenheuer & Witsch, Rowohlt. Es kann aber auch der Börsenverein des deutschen Buchhandels dahinter stecken. Jedenfalls ist diese Form der Schleichwerbung meiner Meinung nach ein Verstoß gegen das Presserecht.

Nachtrag: Wieso Maxim Biller in der Auswahl der Autoren erscheint, ist klar. FAZ.net jubelt hier einen eigenen Autor hoch, denn Biller schreibt auch für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Das ist Literaturmarketing des 21. Jahrhunderts.
Careca - 13. Okt, 15:48

Danke für diese Hintergrundinfos. Da hast du meiner Meinung nach mit Recht. Nach meinem ersten Versuch solle ich wie "Rainald Goetz" schreiben. Dumm war nur, dass ich aufgrund meiner Unbildung erstmal nach dem Namen suchen musste, um zu wissen, wer das denn sein möge. Ich empfand es als "YPS: Komik mit Gimmick" und für die FAZ wie einen Lückenfüller, damit überhaupt was an jenem Wochenende unter "Kultur" stehen konnte. Aber das mit der Buchmesse war wohl der ureigentliche Grund.
Trithemius - 14. Okt, 09:46

Da ritzt sich der Mann sogar in Klagenfurt auf der Bühne mit einer Rasierklinge die Stirn auf, und du kennst den nicht.
Careca - 14. Okt, 15:21

*schäm* würde jetzt im Comic über meinen Kopf stehen ...
Trithemius - 14. Okt, 16:26

Entschuldige bitte, mein Freund, das war ironisch gemeint,
um nicht zu sagen spaßhaft. Man muss doch nicht jeden
geltungssüchtigen Menschen aus dem Zirkus des
schlechten Geschacks kennen.
Careca - 15. Okt, 20:07

gut, dann habe ich bei dem Knispel also nichts verpasst gehabt. :)
Eugene Faust - 13. Okt, 13:13

Die Wiederholung ergab

Blanka Unsinn

Trithemius - 13. Okt, 13:24

:))

Ich glaube, Blanka Unsinn ist die produktivste Autorin aller Zeiten, besonders der Postmoderne.
litteratte (Gast) - 13. Okt, 17:17

Diese Häme

ist schlicht Neid der Besitzlosen.
Schließlich wurde festgestellt, ich schreibe an schlechten Tagen wie Nietzsche und an guten wie Schiller. Ich habe nicht den geringsten Grund daran zu zweifeln.
Ja, ich kann sagen, Schiller schrieb wie ich.

Trithemius - 13. Okt, 17:31

Du hast

völlig Recht, dem "absolut sicheren und unbestechlichen" Urteil der FAZ zu vertrauen. Sie ist schließlich weit seriöser als Teppichhaus Trithemius.
litteratte (Gast) - 14. Okt, 00:01

Du siehst

mich versöhnlich, weil du so einsichtig bist.
Was in der Zeitung steht, stimmt.

Ich hab ein Benn-Gedicht eingefügt und die faz fand, Benn schrieb wie Thomas Mann.
Wahrscheinlich wären jetzt beide beleidigt.
Trithemius - 14. Okt, 09:38

"Erfrischend, adj. – Einen Menschen treffen, der alles glaubt, was in den Zeitungen steht."

Ambrose Bierce; Des Teufels Wörterbuch

PS: Die Schmocks von der FAZ haben sich nicht mal die Mühe gemacht, das Programm mit einer Plagiatsuche zu verknüpfen. Offenbar ist man so arrogant, dass man den Bloggern nicht zutraut, solche Tests zu machen.
Videbitis (Gast) - 13. Okt, 23:32

Ich bekenne mich schuldig: Ausgehend vom Teppichhaus surfte ich durch Mimiotschkas Blog, entdeckte dieses hochwertige Tool, nahm den erstbesten Text und machte die Probe ... der erstbeste Text, der gerade in einem geöffneten Tab zur Verfügung stand, war aus dem Teppichhaus ... Asche auf mein Haupt, dieser Mißbrauch ist ja kaum zu entschuldigen.
Du schreibst übrigens wie Goethe. Also wie Schiller. Also wie Goethe. Oder wie jetzt?

Trithemius - 14. Okt, 09:29

"Dieser ungestüme Schiller hielt sich viel darauf, meinen Stil beeinflusst zu haben. Aber das werden einst jene entscheiden, die über ein absolut sicheres und unbestechliches Urteilsvermögen verfügen."

(Goethe zu Eckermann am 28.6.1823,
bzw. Trithemius an Videbitis 14.10.2010)
Videbitis (Gast) - 15. Okt, 21:23

Ganz sicher und unbestechlich: Ich les lieber Trithemius als Goethe und Schiller.
Trithemius - 16. Okt, 13:03

Da fühle ich mich wirklich geehrt, empfehle aber auch die Kollegen. ;)
kraM - 17. Okt, 13:03

merkwürdigerweise schrieb auch niemand in der blogosphäre wie die von Kürthy, oder denjenigen war es dann doch zu peinlich. :>

Eugene Faust - 17. Okt, 13:48

Dann oute ich mich mal. ;)
Trithemius - 17. Okt, 15:31

Jetzt auch noch von Kürthy, Frau Doktor Freud, äh, Faust, äh, von der Leyen, man könnte Sie fast für eine multiple Persönlichkeit halten. Aber es liegt natürlich an mir und der FAZ.
Eugene Faust - 18. Okt, 18:12

Der Bullshit-Generator schreibt übrigens wie Nietzsche.
Trithemius - 18. Okt, 19:18

Das würde Herrn Nietzsche aber gar nicht gefallen. Zum Glück ist er tot. Die Verantwortlichen von FAZ.NET müssten sich angesichts solcher Ergebnisse in Grund und Boden schämen. Ich finde, wenigstens eine Entschuldigung ist angebracht. Hätte ich die FAZ abonniert, würde ich das Abo sofort kündigen.
nömix - 19. Okt, 08:17

Einen Verstorbenen singen zu lassen, wie in dem eingangs von Ihnen monierten Exempel mit Herrn Burke, scheint sich um keinen Einzelfall zu handeln.

Mimiotschka - 19. Okt, 10:55

Ich persönlich finde Herrn Juhnke nicht erst seit seinem Ableben ein wenig gruselig. Richtig gruselig dagegen finde ich die BILD an sich, und den "Fliegenden Holländer" da oben rechts mit dem Pferd auch. Über Frau Merkel brauchen wir nicht zu schreiben. Die steckt sie ohnehin alle in die Tasche!
Trithemius - 19. Okt, 12:09

Hab zuerst gedacht: "Toter ist doch kein Vorname. Der heißt Harald." Also: Toter Juhnke ist am 1. April 2005 gestorben. Silvester 2010 singt er wieder in der Silverstershow. Man weiß ja, dass diese Shows schon im Sommer produziert werden, aber gleich fünf Jahre vorher, das hätte ich nicht gedacht. Da haben sogar die Schmocks bei BILD gemerkt, dass das nicht geht. Tolles Beispiel, Herr Kollege, vielen Dank.
Trithemius - 19. Okt, 12:12

@ Mimiotschka: "Fliegender Holländer"? Ich dachte, das ist einer von der Hofreitschule, der sein Pferd mit Kaffee dopt. Oder ist das auch gar kein Pferd, sondern ein Auto oder sogar ein Handy, pure Energie oder ein Fernsehgerät?

Ist jedenfalls alles ziemlich kafkaesk.
phyllis - 10. Jun, 09:36

Nachzüglerin

Guten Morgen! Wir haben gestern gespielt. Drüben auf TT. Vielleicht sagt Ihnen der Name etwas. Vielleicht hatten jene, die mitspielten, einfach zufällig ein wenig Zeit zu vertändeln: mit jenem Test. Nichts dabei, dachte ich, als ich zum Mitmachen anregte, was dann auch viele taten.
Auch Eugene, die ihren unverwechselbaren Stil schon allein dadurch unter Beweis stellte, dass sie nicht gleich mit der Keule auf Ihren Beitrag verwies. Sondern erst, nachdem einigen von uns im Laufe des Tages klar wurde, der Zeitvertreib, dem wir nachgingen, war vielleicht doch nicht so harmlos. Sondern eine abgeschmackte Marketingfratze.
Ich las dann hier, auch Ihr Anschreiben an den Presserat. Chapeau, monsieur.
Man hätte diese faz Aktion einfach mit einer Handbewegung abtun können. Oder sagen, naja, Werbung eben, so what. Hier indes haben Sie und die anderen Beiträger:innen Stoff zum Nachdenklichwerden geliefert, auf gleich mehreren Ebenen. Merci!

Herzliche Grüße,
Phyllis

Trithemius - 10. Jun, 12:00

Liebe Phyllis,

auf die lebhafte Spielerei in Ihrem Blog TT bin ich durch einen Eintrag bei Shhhhh aufmerksam geworden. Ich wollte nicht als Spielverderber auftreten, zumal das Thema für mich abgehakt ist. Der Presserat hat mir geschrieben, man könne keinen Verstoß gegen die Presse-Richtlinien feststellen, also macht FAZ.net munter weiter, denn sie haben da ein werbewirksames Tool, das ihnen enorme Aufmerksamkeit bringt, aber auch die Verachtung gegenüber den Mitgliedern der Blogosphäre zeigt, die sich so leicht ködern und ein X für ein U vormachen lassen.

Natürlich hat nicht jede Bloggerin, jeder Blogger die Zeit zur Hintergrundrecherche, viele rechnen auch nicht damit, dass eine sogenannte seriöse Zeitung, die sich sogar in Deutschland als Leitmedium sieht, ihre Leser derart veralbert und instrumentalisiert, ihnen heimlich Werbung unterschiebt. Der Denkanstoß kam von Mimiotschka, die ihr Blog leider inzwischen gelöscht hat. Dann habe ich mir das genauer angesehen, und auch Kollege Nömix hat dazu beigetragen, das Tool als das zu entlarven, was es ist, ein Beispiel für verschmockten Journalismus im Netz.

Danke für Ihren lobenden Kommentar und schöne Grüße,
Trithemius

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