Warnung vor dem Graphologen!
An einem Frühlings Abende von 1794 sah ein Mann durch das Fenster seines Gartenhauses eine junge Dame, die zum Besuch da war, beschäftigt, mit einer Schere seinen Namen, den er mit Kresse gesäet hatte, für ein Butterbrot abzuschneiden, das auf dem Teller neben ihr auf der Erde stund.
Was machen Sie da, rief er, indem er das Fenster aufriß: Schneiden Sie mir meinen guten Namen nicht ab, das will ich mir verbitten.
Das Frauenzimmer, ohne sich im mindesten in ihrer Arbeit stören zu lassen, antwortete vortrefflich: Ihrer Ehre thut es keinen Schaden, und für mich ist es ein kleiner Gewinn.
Der Mann, der seinen Namen mit Kresse gesät hatte, war Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Wie mag der Schriftzug aus Kresseblättchen wohl ausgesehen haben? Lichtenberg schrieb Kurrent, die handschriftliche Variante der Fraktur. Er selbst sagt: Wir glauben öfters, daß wir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Hände schrieben, während als sie einem Dritten immer einerlei erscheinen.
Man muss noch einen Schritt weiter gehen: Die Handschrift bleibt immer charakteristisch und unverkennbar, gleich welches Schreibgerät man benutzt, gleich welche Größe der Schriftzug hat, ob papiersparend klein oder Ergebnis einer weit ausladenden Körpergeste des Sämannes. Eckhard Henscheid, Lichtenbergs geistiger Urenkel, springt eines Morgens aus dem Bett und notiert unbeschwert in sein Sudelbuch:
Dass man jeden Morgen, wenn's wieder losgeht, noch immer dieselbe Handschrift hat, obwohl im Kopf doch nichts mehr stimmt: Charmantcharmant
Es war da wohl kein Graphologe in der Nähe. Die Konstanz der persönlichen Handschrift ist der Hebel der Graphologie. Ihr Begründer ist Ludwig Klages, der sie 1916 mit seinem Buch: "Handschrift und Charakter" erstmals wissenschaftlich zu fundieren versucht hat. Indem die Natur selbst ein "rhythmischer Sachverhalt" sei, so müssten sämtliche Bewegungen des Menschen umso rhythmischer verlaufen, je mehr er sich im "Naturzustande" befinde. Rhythmusstörungen gehen demnach auf psychische Zustände zurück und zeigen sich in der Handschrift. Klages und seine Anhänger profitieren von der Umorientierung in der Schreibdidaktik, weg von der Duktusschrift, hin zur Ausdrucksschrift. In der persönlichen Ausdrucksschrift zeigen sich die charakterlichen Prägungen deutlicher als im Duktus der Vergangenheit, so dass sich dem Graphologen neue Anhaltspunkte bieten.
Den rechten Aufwind bekommt die Graphologie im Nationalsozialismus. Auf Klages diffuser Lehre aufbauend, isoliert man nicht nur charakterliche, sondern auch rassische Merkmale aus der Handschrift. Die Graphologie wird zum probaten Selektionsinstrument. Im Dienste der Nationalsozialisten wächst dem Graphologen erstmals eine unheilvolle Macht über Menschen zu. Er wird zum Taxator, der den Daumen hebt oder senkt, der vermeintlich rassisch oder charakterlich Minderwertige aussortiert und sich dabei vor seinen Opfern nicht zu rechtfertigen braucht, da er seine zweifelhafte Kunst, dieses pseudowissenschaftliche Kaffeesatzlesen, im Geheimen ausübt. Von diesen Wurzeln her stinkt die Graphologie noch heute. Sie ist weiterhin ein missbräuchliches Machtmittel von fragwürdiger Natur.
Lichtenberg konnte sich noch getrost über die Charakterlehre und Handschriftendeutung seines Zeitgenossen Johann Caspar Lavater (1741-1801) erheitern, heute ist die Handschrift und somit die Persönlichkeit des Schreibers kaum vor dem Zugriff des Graphologen und dessen Auftraggeber zu schützen. Wer im Bewerbungsverfahren einen handschriftlichen Text vorlegen soll, nehme tunlichst davon Abstand. Unternehmen, die immer noch auf das Urteil von Graphologen vertrauen, sind nicht unbedingt seriös.
Ludwig Klages Idee vom ruhig dahin fließenden Naturzustand des Menschen ist ein Ideal, das von den Gegebenheiten des Alltags gestört wird. Annähern kann man sich diesem Zustand schon, wenn für eine Weile die innere Sammlung gelingt. Das zeigt sich dann an der Handschrift, wenngleich es anderen nicht unbedingt auffällt, wie Lichtenberg sagt. Man selbst kennt sich besser.
Es gab eine Zeit, in der ich viel kalligraphisiert habe. Damals war ich innerlich ruhig. Denn die Kalligraphie bringt Sammlung, es ist wie Meditation. Man tut etwas Schönes mit der Hand. Der Geist bummelt, und das Herz erfreut sich an den Formen der Buchstaben. Sehr zu empfehlen.
Es beruhigt mich a weng...*
... dass "es" auch bei Obermeister Henscheid "jeden Morgen... wieder losgeht"...
(Hüstel!!!)
Das mit der Graphologie bei den Kacke Farben kostümierten Kämpfern erkläre ich mir daraus, dass halbwegs intelligente Mitglieder der "Bewegung" zumindest unklar spürten, dass "alles zusammen geklaut" war, vom Gruß bis zum Hemd usw. und eine wirkliche eigene geistige Ebene nicht vorhanden, und dieses Loch wird dann mit Kitsch, Klischee und Pseudo gefüllt; war im Realsoz (abgeschwächt) ähnlich, denn paar Jahre vor Tore-Schluss haben da Leute mitgekriegt, dass da 'ne Lücke war im kulturellem Klima oder wie man das nennen will, und plötzlich ritt der Alte Fritz wieder unter den Linden und Luther wäre beinahe in die SED eingetreten usw. Mit dem Ersten Weltkrieg war "das Bürgerliche" in großen Teilen weg gebrochen und sowohl in Braun als in Rot hat man sich bemüht, das Defizit zu füllen. Das hat sich mir gestern wieder bestätigt, als ich Carlo Rolas "Krupp-Saga" angegangen bin (in der übrigens genau dieser Klages höchst unrühmlich in Erscheinung tritt).
Der Tipp mit dem Bewerbungsverfahren ist ja cool und nett gemeint, aber - ach: aus süßer Höhe reinen Geistes: wenn man den Job nun aber dringendst braucht...
Häff fann !
Das Fossil
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* Den Volkshochschulkurs "Bayrisch für halb legal zu gewanderte preußische Küchen-Kräfte" kann ich nicht bezahlen...
die Sprache gibts nicht. Bairisch, mit i.
@ nömix
Interessante These,
Witzig: "Luther wäre beinahe in die SED eingetreten."
Über die unrühmliche Rolle von Ludwig Klages in der Krupp-Saga erzähle mir bitte mehr.
Mir ist auch klar, dass man heutzutage nicht so einfach auf ein Jobangebot verzichten kann. Allerdings glaube ich nicht, dass man in einem Unternehmen glücklich wird, das der Graphologie vertraut.
AbsonderlichkeitenBräuche und trinken bayrisches Bier, aber sprechen Bairisch. (Ein Idiom, das übrigens weit über die bayrischen Grenzen hinaus im Gebrauch steht, etwa im überwiegenden Großteil Österreichs - also im bairischen Sprachraum.)Nichts weniger war meine Absicht, als den Kollegen Webgeselle zu schulmeistern - möchte um Pardon ersuchen, falls dieser Anschein erweckt wurde.
Das erscheint sinnvoll, weil Bairisch, wie Sie sagen und Ihre Karte zeigt, sich grenzüberschreitend auf das deutsche und östereichische Staatsgebiet erstreckt. Wieder was gelernt. Danke und Grüße ins Amt nömix.
@nömix
Rrrrrrrrrrrrrrrrr... (sorry: ich darf das, ich bin Unterschicht! ) Warum werde ich immer an den falschen Stellen ernst genommen?
Eigentlich wollte ich nämlich Berowarisch schreiben oder Bajulinisch. Is' meine voll krass originale Erfindung nämlich!!! Z. B.: "Icke donk o scheen!"
Auch gedenke ich das Problem meiner, hüstel, mittelfristig, igitt, angedachten Verortung konstruktiv-symbiotisch (im Sinne Ammons) in ähnlicher Weise zu lösen, indem ich in das Bayerische Viertel von Berlin ziehe... Zum Seniorenstudium - ca. 2026...
Kurzum: häff fann!
Das Fossil
PS : "Kollege" is' ja voll cool, Mann, boah...
@Mr. Trittenheimer
(... und übrigens finde ich Deinen zweiten Vornamen "Paul" "Höchst, höchst spaßhaft!", wie Bankier Kesselmeyer sagen würde, "Buddenbrooks", und das ist natürlich albern-infantil, aber ein Paul passt wirklich nicht zum Teppich-Haus, der passt zur Schlosserei oder so*; ich erwähne das nur, um zu zeigen, dass auch mir ein wenig höherer Klatsch hin und wieder behagt...)
Zugegebenermaßen aus geistiger Trägheit (das mit dem "Arschtritt" ist ja pädagogisch durchaus nicht un hochwertig oder so ähnlich) versuche ich mich kurz zu fassen: ich kann mir überhaupt und grundsätzlich kaum ein Unternehmen vorstellen, in dem man glücklich werden könnte (das ist ja schließlich auch nicht die Aufgabe eines Unternehmens und außerdem und vor allem auch völlig untypisch für unsere kapitalistischen Menschen), aber das ist mein Problem und ich bin ja wieder so was von arrogant (manchmal habe ich das Gefühl, manche Leute wissen gar nicht wirklich, was "Arroganz" heißt - dann würden sie auch realisieren müssen, dass sie sich ihrer selbst heftig bedienen oder so ähnlich -, vielmehr sie das Wort gewissermaßen als "Sammelbegriff" für alles benutzen, das ihrer Konditionierung nach pfuibäh usw. ist)...
Ich bin jetzt zu faul (siehe eben oben), etwa Mama Google oder Tante Wiki zu fragen (jetzt habe ich aber doch schnell die Tante gefragt, bin jedoch auch nicht schlauer), ob die Episode authentisch ist, aber in dem Krupp-Film (erster Teil) gibt es eine üble Szene ("Szene" gar im mehrfachem Sinne), in der auf Veranlassung Ihrer Majestäterätä die Kruppsche Prinzipalin (oder wie man da sagen tut) in die Züchatrie verschleppt wird, und zwar unter ärztlicher Aufsicht besagten Dr. Klages...
Die Große Dame (nicht ironisch gemeint) hat nämlich nach kaiserlicher Ansicht zu viel Wind gemacht darob, dass ihr schwer beschäftigter Gatte (und nämlich Freund des Kaiser - falls Kaiser so was wie Freunde hatten; nein, ich sehe mich nicht als Kaiser, Dr. Freudlos) jungen Herren beizuliegen pflegt, wobei ich Big Bertha verstehen kann, denn wenn es wenigstens anständig degeneriert verblödete Grafen-Söhnchen oder so gewesen wären, aber nein: italienische Land-Buben, das geht zu weit...
Ja - alle haben Probleme, selbst die obersten Zehn, hach... - Meinen "geplanten" Künstler-Namen hatte ich erwähnt? H. Edwig-Kurzmalers?
Okay.
(... passt wirklich... denn trotz - Textbaustein Kritiker-Profi! - "einer grandiosen Iris Berben" ist das Werk über gewisse Strecken leicht schinkig... aber das sage ich... und ich bin arrogant und stinkig...)
Jetzt wollte ich noch was "sagen" - habe ich vergessen: das Alter ist furchtbar fürwahr!
Reicht ja auch! - Häff fann!
Der Ihnen jederzeit geneigte Ausgestorbene
PS: Is' mir wieder eingefallen - das Teil kennst Du schon?
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* Damit wollte ich nichts gegen Schlossereien sagen!!!
@ bairisch
meine Mundart, das Ripuarische, erstreckt sich ein Stück in die heutigen Niederlande und nach Belgien. Sie ist aber längst nicht mehr so lebendig wie die oberdeutschen Mundarten, allenfalls noch in Köln. Da ich jetzt in Hannover lebe, habe ich keine echte Gelegenheit mehr, sie zu sprechen. Dabei schätze ich den Bilderreichtum und Sprachwitz meines Dialekts. Die Hannoveraner glauben ja, gar keinen Dialekt zu haben, was aber nicht stimmt. Vielmehr sind über das Aussprachewörterbuch von Theodor Siebs http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Aussprache_%28Siebs%29
niederdeutsche Elemente aus der Gegend rund um Hannover und Braunschweig in die Hochsprache eingedrungen, so dass wir sie nicht mehr als solche identifizieren können.
du meinst das im Scherz, aber du weißt auch, dass im Teppichhaus die Schichtzugehörigkeit keine Rolle spielt. Gemessen an deiner autodidaktischen Bildung gehörst du ja doch zu den Intellektuellen. ;)
Wegen Paul: Tatsächlich war mein Vater Kunstschmied und Kunstschlosser, dann passt's. Danke für die Erläuterung zu Klages im Film. Die Seite "Denken nach Illich" kenne ich. Übrigens lehrt hier in Hannover die Illich-Schülerin Barbara Duden.
Das ist auch wieder ein ganz kleines bisschen nicht untypisch...
(oder so ähnlich): so Schichtigkeiten lassen sich hier gut unter den Teppich kehren...
(... der war gut, oder: der war gut...)
Lieber Trittenheimer: ich habe doch sonst kaum Gelegenheit, die minimalen Restbestände meines spätestpubertären Übermutes halbwegs angemessen auszuleben (Du weißt schon: übrig gebliebener 68er und so); lass mir doch die dürftigen Späßchen.
Für alle Fälle (ick wunda mir üba jarnüscht mehr!) wünsche ich schon mal rekreatiefsinnige Finksten!!!
Das Fossil
Ha: das mit dem Vater war Inti... Intuo... - Du weißt schon (bei Handwerksmeistern denke ich immer an "Das Fähnlein der sieben Aufrechten": ich bin ein Anachronismus)!
OT
@ Eileen