Die Handschrift hat Schwindsucht

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Manchmal, wenn ich mich mit einem Stift in der Hand erwische, frage ich mich: Was, zum Teufel, tue ich da? Dann ist mir das Schreiben mit der Hand ganz fremd. Die Auseinandersetzung zwischen Ausdrucks- und Formwillen, Beschreibstoff und Schreibgerät kommt mir anachronistisch vor, gehört in die Vorzeit des Computers.

Der niederländische Kabarettist, Autor und Sänger Wim de Bie veröffentlichte schon in den 80ern in einer Tageszeitung eine Glosse, worin er das Schreiben mit dem Computer ironisch lobte. Der Text ist mit der Hand geschrieben, weil der Computer des Autors kaputtgegangen war. Und was stellt Wim de Bie fest? Seine regelmäßige, geläufige, männliche Handschrift, mit der er früher manches Mädchen zu betören wusste, ist verschwunden.


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Das ist der Preis für die wundersame neue Schreibtechnik. Aber die Vorteile überwiegen. Umberto Eco hat bereits in den 80ern den Computer als „spirituelle Maschine“ gefeiert, weil man mit ihm fast so schnell schreiben wie denken könne. Er hat sich vertan. Mancher Tastenvirtuose kann sogar viel schneller schreiben als denken.

Handschrift dagegen hinkt dem Denken hinterher. Aber das wirkt sich auf die sprachliche Form aus. Mit der Hand zu schreiben, zwingt zu einer gedanklichen Durchdringung, zumal jede Korrektur mit Aufwand verbunden ist. Daher ist ein handschriftlicher Text näher am Schreiber, man spürt ihn als Leser fast noch. Diese Zeilen hier wurden beim Schreiben ständig korrigiert. Manches wurde spurlos getilgt, anderes ebenso spurlos an eine andere Stelle verschoben. Das Ergebnis ist ein künstliches Produkt und auf bedauerliche Weise steril. Und das liegt eben nicht nur daran, dass mein Text sich dem Leser in 12 p Verdana präsentiert.

Eine schöne Handschrift will geübt sein. Die Voraussetzungen dafür werden in der Grundschule gelegt. Deutsche Schulkinder haben jahrzehntelang nach hässlichen Schriftvorlagen lernen müssen, und viele haben sich dabei eine ministeramtlich verordnet Sauklaue zugezogen. Hier ist ein Änderungsbedarf. Der bundesweite Grundschulverband hat in seinem Maiheft von Grundschule aktuell das Problem der Ausgangsschriften für Grundschüler thematisiert und dabei eine beachtliche Kehrtwende vollzogen, denn seit den 70ern hatte man die missratene Vereinfachte Ausgangsschrift propagiert. Das Heft enthält unter anderem eine überarbeitete und erweiterte Version meines Blogbeitrags „Einiges über Handschrift“. Die neue Fassung ist hier vorab als PDF zu bekommen.

Der Grundschulverband schlägt vor, keine Ausgangsschrift mehr zu lehren, sondern nur noch eine Grundschrift, die von den Kindern individuell abgewandelt werden soll. Ich halte das für einen genialen Befreiungsschlag. Mein Künstlerfreund Rudolf hat mich letztens einen Verräter gescholten, holte Notizbücher hervor, um mir die Schönheit der Lateinischen Ausgangsschrift zu beweisen. Es war aber seine Schrift, die vom Formwillen durchdrungene Handschrift eines Künstlers. Man kann sie nicht als Maßstab nehmen. Die meisten Adaptionen der gängigen Ausgangsschriften sind weit davon entfernt auch nur geläufig zu wirken. Wie soll sich auch eine Kinderschrift ästhetisch entwickeln können, wenn überkommene barocke Formen gelehrt werden und zudem kaum noch Zeit für die Vermittlung mehr ist?

Stattdessen müssen sich Kinder schon im zarten Alter mit einer Unzahl von Dingen beschäftigen, die nicht zu ihrer Lebenswirklichkeit gehören, z.B. Autoren suchen, die gar kein Buch geschrieben haben, nicht mal mit der Hand.

Homer
6818 mal gelesen
Mimiotschka - 4. Mai, 20:27

Ich stelle auch bei mir fest, dass sich meine Handschrift sehr verschlechtert hat. Ich schreibe zwar noch recht häufig in der Uni mit, aber meist ist es mehr Gekritzel als wirklich Schrift.
Wenn ich allerdings mal Zeit und Ruhe habe, dann krame ich die 'Schönschrift' raus. Die ist recht hübsch.

Trithemius - 4. Mai, 22:02

Glaube ich gern,

Mädchen- oder Frauenhände sind halt geschickter. Eine "Schönschrift" habe ich auch noch, nutze sie aber nur zum Spaß, denn sie ist eine völlig unentwickelte Kinderschrift. Mit ihr habe ich mich lange rumgeplagt, dann Druckschrift geschrieben, später die Vereinfachte Ausgangsschrift gelernt, darauf aber zum Glück die schöne isländische Ausgangsschrift gefunden, nach der sich meine jetzige Handschrift ausgebildet hat. Aber die kann ich natürlich auch hudlig oder schön schreiben, je nach Anlass.
pathologe - 5. Mai, 10:17

Ich

merke, dass ich in meiner "Schreibschrift" im Laufe der Jahre sehr viele Vereinfachungen habe einfliessen lassen. G, S, X, E, F, J - alle diese Grossbuchstaben entsprechen mehr der Druck- als der Schreibschrift, die ich einst erlernte. Trotzdem kann ich meine eigene Schrift immer noch lesen. Und schaue mir ab jetzt an, was meine Tochter am Ende der ersten Klasse beigebracht bekommt. Das "i" sieht noch ganz bekannt aus.

Trithemius - 5. Mai, 10:29

Nur selten findet man in ausgeschriebenen Handschriften noch die Großbuchstaben der Lateinischen Ausgangsschrift. Die meisten Erwachsenen machen's wie Sie, weil es ökonomischer ist und besser aussieht. Die Großbuchstaben der Vereinfachten Ausgangschrift sind ja schon den Druckbuchstaben angenähert. Wenn das kleine I, wie es Ihre Tochter lernt, noch bekannt aussieht, lehrt man sie vermutlich Lateinische Ausgangsschrift.
pathologe - 5. Mai, 11:10

Es

ist eine Deutsche Schule im Ausland. Die folgen dem thueringischen Lehrplan.
Videbitis (Gast) - 5. Mai, 15:17

Toller Artikel - ich hatte ja keine Ahnung! Über Handschriften habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Jetzt weiß ich endlich, wieso meine Handschrift so viele Wellenlinien und komische Schnörkel hat.

Trithemius - 5. Mai, 19:06

Dankeschön

Wie du oben unter dem 1. Kommentar lesen kannst, ging es mir genauso. Meine Unzufriedenheit mit der eigenen Handschrift war der Grund, warum ich mich mit der Thematik beschäftigt habe. Aber eigentlich interessiert mich alles, was mit Schrift und Schreiben zu tun hat.
deprifrei-leben - 5. Mai, 20:50

Zum Glück habe ich eine schöne Handschrift. Gut, wenn meine Gedanken rauspurzeln, wenn ich ein Gedicht schreibe, ist diese auch nicht so schön. Aber eine Handschrift sagt sehr viel aus wie man sich gefühlt hat. Die Maschinenschrift ist wie du gesagt hast, sehr steril.

Trithemius - 5. Mai, 23:32

Ja, die jeweilige Form der Handschrift spiegelt die
Enstehungsbedingungen.
Und Form bedingt den Inhalt. Ich mache mir das immer an der Nudel klar. Der Teig ist immer der gleiche, aber je nach Form schmeckt die Nudel anders.
webgeselle - 6. Mai, 16:27

Wieder voll Dialektik, boah!


... so habe ich das auch immer gemacht: den letzten Eimer Kohlen nicht verfeuert, sondern die Treppe(n) hoch und runter geschleppt; wenn man nun aber eine Stunde nach einer Beleitungsandienung sucht, kann Einem auch warm werden (und endgültig der Schweißausbruch kommt dann schließlich beim Lesen)...

(... ich kann meine eigenen Tagebücher zum Teil nicht mehr lesen, die Hand geschriebenen, die noch übrig sind nach meiner privaten auto masochistischen Bücherverbrennung...)

Das mit dem "Befreiungsschlag" finde ich echt den Hammer - schon wieder möchte und muss ich sagen: geht doch; eigentlich aber war das mit der individuellen Abwandlung ja eh' schon immer so, aber bewertet wurde die Fertigkeit der Reproduktion des "offiziellen Schrift-Bildes" oder wie immer man das nennen will.

Und wenn Einer gar nicht in der Kartei steht - das geht ja nun gar nicht. Muahaha! Köstlichst! - Mir drängt sich hier die Frage auf, ob Du nicht einmal Deine reichhaltigen Erfahrungen als Lehrer "verarbeiten" willst, aber ich stelle diese Frage mitnichten, denn erstens bin ich voller Rücksicht und Takt immer dann, wenn es eher nicht passt, und zweitens würdest Du mich mit 56,878%ger Wahrscheinlichkeit eh' wieder auf diverse Blog-Postings verweisen, die Du genau zu diesem Thema bereits vor langem rein gesetzt hättest und die ich wieder einmal nicht gelesen habe wegen chronischer Bauchnabel-Schau (über die Fusseln da drin - nicht in der Schau, im Nabel - hat gar Jemand eine Doktor-Arbeit geschrieben, no joke!), weshalb ich nun hier verstumme, und zwar

Mit vorzüglicher Zerknirschung

Das Fossil

PS: Dies ist ein Kombi-Kommentar; ich habe gleich zwei Postings bekommentiert (oder so ähnlich); aber was ich noch sagen wollte (und es ist mir durchaus gegeben wahrzunehmen, dass ich es nun in der Tat auch sage): irgendwo habe ich in meinem Drang des Achtel Gebildeten nach Viertel-Bildung einmal auf geschnappt, dass Schreiben mit der Hand auch an entsprechende psychomotorische Abläufe gekoppelt ist, die beim Verprügeln von Tasten verkümmern, was hinwiederum auf geistige Abläufe rückwirkt.
 

Trithemius - 6. Mai, 18:15

Da ist aber noch ein beachtlicher Stapel Tagebücher übrig, den du die Treppen rauf und runter schleppen kannst, statt ihn zu verheizen. ;)

Du hast Recht, schon immer sollte die Ausgangsschrift individuell abgewandelt werden. Der Unterschied besteht darin, dass jetzt erst gar keine Schreibschrift mehr gelehrt wird, sondern eine schnörkellose Grundschrift. So kommt es nicht zu Verschleifungen der eigentlichen Buchstabenform bis an die Grenze der Lesbarkeit und darüber hinaus (wie bedauerlicher Weise bei deinen Tagebüchern), und die Grundschüler müssen nicht wie bisher zwei Alphabete lernen, Druckschrift und Ausgangsschrift.

Zu meinen Erfahrungen als Lehrer: Darüber habe ich bisher so gut wie nichts gebloggt. Du bist auch der erste, der mich danach fragt. Ein Kurzbericht: Wie du richtig gesagt hast, benoteten die Lehrer noch lange Zeit nach Duktustreue. Als junger Deutschlehrer musste ich in den Klassen fünf und sechs noch eine Note für die Handschrift geben, obwohl im Gymnasium das Thema Handschrift gar nicht mehr behandelt wird. Demgemäß gab es auch keine Beurteilungskriterien, sondern die Deutschlehrer benoteten die Handschrift nach Gutdünken. Viele Lehrer haben gewiss nach Duktustreue gewertet. Denn das Konzept der Ausgangsschrift wird in der Lehrerausbildung offenbar gar nicht dargelegt. Nur so ist es zu erklären, dass die meisten Lehrer nicht über das nötige Hintergrundwissen verfügen. In NRW hat man Mitte der 80er die Handschriftnote am Gymnasium abgeschaftt. Da war ich heilfroh, diesen Unsinn nicht mehr machen zu müssen.

Danke, dass du gefragt hast und schöne Grüße,
Dein Trittenheim

P.S.: Was du da über den Einfluss der subtilen feinmotorischen Prozesse beim Schreiben mit der Hand sagst, ist eine wertvolle Ergänzung meines Textes. Ähnliches: Beim leisen Lesen arbeitet die Stimmritze mit. Das erinnert an die Zeit, als Lesen noch grundsätzlich Vorlesen war. So waren die mittelalterlichen Bibliotheken von einem ständigen Murmeln erfüllt. Man las sich selbst die Texte vor, und das war mehr ein Buchstabieren. Die Leser waren "Murmler im Weinberg des Textes", sagt Ivan Illich. Illich hat als erster daruf hingewiesen, dass der Übergang vom lauten zum leisen Lesen ein geistesgeschichtlicher Umbruch war. Er wurde erst möglich, nachdem im 5. Jh. die Worttrennung eingeführt worden war. Das geschah, damit irische Bauern (idiotae) leichter lesen lernten, wenn sie zu Mönchen ausgebildet wurden, um hinfort auf Europas Festland zu missionieren. Erst die Wortbilderkennung erlaubt das schnelle und leise Lesen. Während "der Murmler im Weinberg des Textes" noch in devoter Haltung das nachvollzog, was ihm die heiligen Texte sagten, kann der leise Leser sich vom Text distanzieren, indem er ihm die Kraft der Vertonung raubt.
Aber wie gesagt, die Stimmritze macht trotzdem noch mit und bringt dabei etwas im Kopf zum Schwingen, was zwar außerbewusst ist, sich aber beim Lesen bemerkbar macht. Darum achte ich immer darauf, dass meine Texte auch gut klingen.

P.P.S.: Den Homer-Zettel hatte ein Kollege 1998 im Biohörsaal gefunden.
Trithemius - 6. Mai, 20:02

Ivan Illich

Über den Universalgelehrten und radikalen Gesellschaftskritiker
Ivan Illich:
http://www.inwent.org/E+Z/content/archiv-ger/02-2003/trib_art1.html
webgeselle - 7. Mai, 20:39

Komischst...


... ich habe hier was eingestellt mit Benachrichtigung - klappt nicht bei/mit Kommentaren, deucht mich (nicht so laut lachen, Deutschland schläft)...

Und immer auf das Schlimme! Immer auf das Schlimme (ist schon okay: dann wird das alte Fossil ein bisschen aktiviert)! Diese Liste habe ich erwähnt? Diese Liste, die immer länger wird? Die Liste mit den Büchern, die ich lesen, den Filmen, die ich sehen, den Alben, die ich hören und nicht zuletzt den Links, denen ich hinterher klicken muss? - Ganz zu schweigen vom käuflichem Erwerb besagter Medienträger oder wie man da sagt... Sagt man nicht?

Diesen Illich habe ich nämlich erst 234 Male "gehört" und mir annähernd 233 Male vorgenommen, mal "genauer" zu kieken mitte Oogen im Kopp... Der scheint ein hoch ergötzlicher Anachronismus; Stichwort (angestrebt) universal Gelehrter...

(... wenn mich die Lust auf Rezeption und/oder der Drang nach Produktion übermannt/übermannen, lege ich mich ein bisschen hin, bis der Anfall vorbei ist... höhö...)

Und das ist ja mal was, dass ich der Erste bin, der Dich nach Deinen Lehr-Erfahrungen frug (oder so ähnlich, aber ich glaube, "frug" gibt es tatsächlich); ich war wirklich einigermaßen überzeugt, es käme von Dir ein Hinweis auf diesbezüglich längst erfolgte Postings; wieder mal eine kleine, hüstel, surprise aus einer Richtung, aus der ich sie nicht erwartet hätte. Ich meine: es liegt ja nahe, dass ein ironischer Kopf hier eine Fundgrube gräbt oder wie man da sagt, ich meine: auf dem Felde der professionellen Jugend-Begleitung; so was wie "Mathe ist ein Arschloch" ist ja noch recht sehr harmlos, obwohl ich doch immer wieder drüber kichern muss...

Im Bio-Hörsaal? Das sind aber auch wieder interessante Querverbindungen... Ich meine ja nur... Meinen können darf man ja, muss ich denken...

Hihi. Und natürlich hatte ich bei den erst ungefähr 1234 Versuchen, des "Budenzaubers" wenigstens deutend und einordnend Herr zu werden, auch an dieses "innere Sprechen" gedacht; auf die Gefahr hin, Dich tödlich zu beleidigen, besitze ich die relative Kühnheit, hier anzufragen, ob Dir dieses Werk bekannt wäre (und immer wieder einer kleinen Gedankenkette wert ist das "Erscheinen" des tiefen sowohl als auch sinistren Skriptes ausgerechnet "unter" Mr. Bahro)...

Richtig: ich meine ja nur...

Ich kenne das aus dem von mir durchlebtem und durchlittenem Zeitraum, den man heute "Grundschulzeit" nennen würde: man war gehalten, leise mitzusprechen beim Lesen und, chch, ("schön") Schreiben... Boah ejh! Ein Höhepunkt meiner Präpubertätlichkeiten hienieden fürwahr...

(... ich bin dafür, die Grundschulzeit abzuschaffen und gleich mit dem Abitur zu beginnen... vermutlich kommt eh' dasselbe bei raus... Pisa technisch... es ist ja wichtig, was hinten raus kommt... wie Dr. Kohl richtig anmerkte... aber wie wird das werden, wenn man per Hirn-PC-Interface beliebig viel Daten "auf die mentale Festplatte speichern" kann... wir werden es wohl noch erleben... d. h., wenn ich nicht irgendwann an einer Kreuzung von einem metallic-violettem U-Boot überfahren werde, was gerade Mitgliedern des Nicht-Arbeitskreises Dr. H. Artz-Vier häufig passiert...)

Na ja...

Habe Er ein kreatiefsinniges Wochenende im Hohen Norden!

Das Fossil

PPS:: Das ist cool bei twoday.net - da kann man sein eigenes Getippsel im Kommentar korrigieren; "Das putzt ganz ungemein!", wie Bendix Grünlich gesagt hätte...
PPS: Ich meine ja nur...
 
Trithemius - 9. Mai, 18:22

Hirn-PC-Interface

Früher galt jemand als intelligent und gebildet, der die Rechtschreibung beherrschte. Wenn nun aber auch die Rechtschreibprüfung der Textverarbeitung die Rechtschreibung beherrscht, dann müsste ja der Computer wirklich intelligent und gebildet sein. Will sagen, alles was die Maschine Computer besser kann als der Mensch, kann man nicht wirklich der Intelligenz und der Bildung zurechnen. Unser so genanntes Bildungssystem tut aber zunehmend so, als bräuchten wir nur den perfekten Nürnberger Trichter, etwa dein Hirn-PC-Interface. Gelehrt und gelernt wird abfragbares Wissen. Offenbar glauben die Verantwortlichen für diese Entwicklung, dass es ausreicht, Fachidioten auszubilden.

Inzwischen glaube ich, dass dahinter nicht mangelnde Einsicht, sondern System steckt. Es ist die gleiche Geisteshaltung, die schon Ende des 19 Jahrhunderts herrschte.

Exemplarisch: "Wo keine Lust zum Lesen ist, rege man sie nicht an. Es ist nicht zu wünschen, dass der Bauer Zeitungen liest, auch das Verlangen nach guter Lektüre soll, wenigstens unter Landleuten, nicht hervorgerufen werden." (der preußische Konsistorialrat Münchmeyer, 1871)
und

Staatsminister Hofmann 1872 anlässlich der ersten Beratung des Gesetzentwurfes zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen im Reichstag: „Wie leicht wird ferner all der gute Samen, den die Schule in das jugendliche Gemüt gestreut hat, zerstört und ausgerottet, wenn der junge Mann von dem Lesen, das er in der Schule gelernt hat, in der Weise Gebrauch macht, dass er sozialdemokratische Blätter studiert, wenn er etwa von seiner Fähigkeit im Schreiben (…) Gebrauch macht, um selbst Artikel in sozialistischen Blättern zu schreiben (…)“ Zitate von hier
http://abcypsilon777.blog.de/2009/05/20/ohnmacht-federkiels-macht-tasten-6142736/

Die Angst der Herrschenden vor einer wirklich gebildeten Bevölkerung ist auch heutzutage wieder groß. Also verkürzt man die Schulzeit von 13 auf 12 Jahre, verschult die universitäre Bildung, verteidigt das miese dreigliedrige Schulsystem.


Das Werk von Julian Jaynes kenne ich leider nicht, will aber mal danach Ausschau halten. Danke für den Tipp. Zu der These des Autors:

"Bewußtsein ist in der Menschheitsgeschichte erst vor rund dreitausend Jahren aufgetreten. Autonomie, eine subjektive Identität, Geschichte, überhaupt das Wissen des Menschen von sich selbst — lauter historische Neuerwerbungen. Die Menschen der Frühzeit hingegen konnten in Grenzsituationen, unter Streß nicht selbst-bewußt entscheiden wie wir. Statt dessen vernahmen sie akustische Halluzinationen — Stimmen von Göttern."

Die moderne Ich-Identität ist ein Effekt der Schrift. Je stärker eine Gesellschaft sich literalisiert, desto stärker auch die Vereinzelung. Wer will bezweifeln, dass Reste des voralpabetischen Denkens bei jedem noch vorhanden sind und auch bedient werden müssen. Schau dir die Fußballfans an, wie sie in der Gruppe aufgehen und singen, skandieren, aufschreien wie ein Mann. Wenn sie den Fanschal wieder in die Schublade gelegt haben, dann werden sie wieder zu Individuen.

Was deinen Budenzauber betrifft, da könnte man ja vermuten, dass bei dir die Reste des voralphabetischen Denkens auch Stimmen hervorrufen. Ich nehme an, du spielst darauf an, oder? Sag, hat es je einen Zeugen für den Budenzauber gegeben?

Das fragt mit freundlichen Grüßen,
Dein Trittenheim
webgeselle - 11. Mai, 13:09

Na ja...


... (ich liebe dieses "na ja", weil da Eine der Mitgliedinnen des Freundeskreises Anna Lyse immer gegen die Decke gesprungen ist, wenn ich dieses "na ja" vor die Couch kotzte, und ich liebe es, den rachsüchtigen Kleingeist zu geben, ha), was ist mit emotionaler Intelligenz (ich weiß, wovon ich rede, gäbe es da einen IQ, wäre meiner dicht über Zimmertemperatur)...

Bla.

(... bevor ich es wieder vergesse - das Alter ist furchtbar: man sollte es einfach überspringen, aber wohin - ich bin jetzt wieder mehr so hier und täte mich ein mildes Entzücken durch rieseln, wenn der Betreiber vorliegenden Teppich-Großmarktes einmal quartalig - oder so ähnlich - einen oberstudienratlosen Blick schmeißen täte; auch beabsichtige ich eventuellst, auch bei twoday.net in Ertretung zu scheinen und alles so was, denn die Postmoderne muss viel mehr fossiliert werden oder wie man da sagen tut; das ist paradoxe Intervention, denn wenn man so Leute mit Fossilien konfrontiert, versteinern sie nicht so krass...)

Zeugen nicht direkt, aber ich habe einige Leute kennen zu lernen das Verhängnis haben dürfen (oder so ähnlich), die schon, bevor ich in das Geschehen "einbezogen" wurde, davon "redeten", und auf die man und ich so reagierte wie jetzt die Leute auf meinen "Wahn"... Und es ist sinnlos, das jemanden vermitteln zu wollen, der "draußen" ist. Bis jetzt hat mich niemand vom Gegenteil überzeugen können und deshalb bleibe ich dabei: es ist da "was gemacht" worden, ich bin nicht krank (geschweige denn, dass ich simuliere; ich wünsche mir immer, dass Leute, sie so was behaupten, wie in "Avatar" in meinen Seelen-Raum treten könnten, die würden ja nie wieder so Zeugs erzählen, ha!)...

Was Du da über Bildung und ähnliche zur Gewohnheit gewordene Unfälle schreibst, habe ich übrigens in Wolfgang Schmidbauers ganz ergötzlichem Buche "Ein Land - drei Generationen" ähnlich formuliert gefunden (ich bin noch nicht ganz durch, werde aber sicher noch schriftlich drüber nuscheln): ach, alles ist fürwahr vernetzt hienieden...

(... der Bauer ist häufig mit Kartoffeln lesen beschäftigt... chch... sorry...)

Ich würde von "Stimmen der Ahnen" reden wollen, nicht von "Stimmen der Götter"; auch (oder gerade) hier werden, wie mich durchaus deucht, unbewusste seelische Inhalte weiter gegeben; dazu aber vermutlich gleichfalls später mehr...

Habe Er Spaß in jener Königsstadt im hohen Norden!

Das Ihnen hoch bzw. zutiefst geneigte (oder so ähnlich)

Rezente Fossil
 
Trithemius - 11. Mai, 18:40

Hab schon gesehen, dass du dein Blog bei Blog.de mal wieder gelöscht hast, was mir immer wie ein Brachialakt vorkommt. Hast du wenigstens deine Texte gesichert? Jedenfalls verschwindet damit immer ein bisschen Bloggeschichte, die ja auch Teil deiner Biographie ist. Na, und die Kommentare sind auch weg.

Im neuen Bloghaus war ich auch schon.

Dass es keine Zeugen gibt für deinen Budenzauber, weist doch auf innere Vorgänge hin. Alles andere würde ja eine komplette Überwachung deines Lebens erfordern, - eine teure Sache. Sie wäre natürlich zu rechtfertigen, wenn ein psychologisches Experiment liefe, das mal in der DDR begonnen hat und von anderen Stellen weiter geführt wurde. Aber mit welchem Ziel?

Man müsste auch davon ausgehen, dass es dann nicht nur eine Versuchsperson gibt oder glaubst du, man hat nur dich allein ausgewählt, um was weiß ich was zu erforschen? Welche Aussagekraft hätten die Ergebnisse eines Experiments, das nur an einem einzigen Probanden durchgeführt wird. Du selbst schwankst ja zwischen: "Es wurde/wird was gemacht" und "inneren Stimmen der Ahnen".

Pass mal gut auf dich auf, das ist ein Rat, den ich jedem gebe, an dem mir was liegt.

Schöne Grüße
Dein Trittenheim
webgeselle - 12. Mai, 16:10

Icke donk o scheen!*


Und zwar für den Rat, mittlerweile kann ich so was auch annehmen (oder überhaupt wahrnehmen oder so)...

Nein, kein Narrzissmus (kein Tippfehler), und ich hielte mich für den Nabel der Welt, litte unter Erlöser-Wahn usw.; aber lassen wir das, zumal ich immer wieder erleben muss, dass "das" nicht zu vermitteln scheint; eine (von vielen) "Deutungsversuchen" wäre aber noch (ich darf glücklich sein, wenn ich das mal "alles aufschreiben werde"[n kann]), dass "man", wer oder was immer da zu Gange ist, gewissermaßen "auf der immateriellen Ebene bleibt", nachdem die Umsetzung(en) diverser Ideen zur Optimierung des Hominiden-Soziotops gescheitert sind; eine Art Internet ohne Technik oder transzendenter "Kommunismus" usw.; da bin ich mittendrin im Verschwörungstheorie-Schlamm und laufe Gefahr, mich zum Voll-Obst zu machen... nee nee...

Aber danke auch für Deine Mühen der Empathie (cooler Roman-Titel, "Die Mühen der Empathie", von H. Edwig Kurzmaler)!!!!!!!

Ich drücke Dir was und wünsche Dir die Daumen beim königsstädtischem Hannövrieren!!!

MifreuGrü

Das Fossilum infernale
-------------------------------------
* Dass ich an der Ausarbeitung des Berowarischen arbeite, hatte ich erwähnt?
 
litteratte (Gast) - 6. Mai, 19:11

Handschriften

finde ich gemütlich und persönlich/sinnlich. Und dauerhaft.
Möchte mir gar nicht vorstellen, was von uns heute überliefert bleibt, wenn wir uns auf updates auf ständig neue Datenträger verlassen.

" Hochentwickelte Kultur, leider ohne Schrift" wird man möglicherweise urteilen, wenn man uns mal ausgräbt und auf Myriaden unlesbarer Silberscheiben stösst.

lieben Gruß

Trithemius - 6. Mai, 19:19

Du hast die Unsicherheit der digitalen Datenspeicherung wunderschön ins Bild gesetzt. Es ist doch eine hübsche Vorstellung, dass alles Digitale einmal der Gnade des Vergessens anheimfällt. Deine feinen Gedichte sollte man aber noch lesen können, liebe Susanna! Also aufs Papier damit.

Herzlichst
Jules
Videbitis (Gast) - 12. Mai, 09:56

Gestolpert ...

... wie über eine Bodenschwelle bin ich über diesen Satz:"Die moderne Ich-Identität ist ein Effekt der Schrift. Je stärker eine Gesellschaft sich literalisiert, desto stärker auch die Vereinzelung." Das ist mal eine interessante These - in mir geht ein Sperrfeuer sich wiedersprechenden Gedanken los (was ja sehr gut ist): Ich-Identität als Vorausetzung von Furcht, die wiederum Religionen etc. begründet, ist ja vermutlich viel älter als jede Schrift, andererseits ist moderne Ich-Identität ja tatsächlich durch eine starke Vereinzelung geprägt ... uff, man könnte wahrscheinlich ganze Regale mit diesem Thema füllen. Hast Du vielleicht einen Literaturtipp?

Trithemius - 12. Mai, 10:30

Eine ganze Reihe ...

... von Autoren hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Erfindung der Schrift das Denken verändert hat. Jack Goody etwa:
http://www.amazon.de/Entstehung-Folgen-Schriftkultur-Jack-Goody/dp/351828200X
Assman/Assmann:
http://www.amazon.de/Schrift-Ged%C3%A4chtnis-Arch%C3%A4ologie-literarischen-Kommunikation/dp/3770521323
Besonders zu empfehlen, Ivan Illich: Schule ins Museum. Phaidros und die Folgen (leider vergriffen, aber vielleicht in der Bibliothek noch zu finden).
Ein gute Literaturliste habe ich hier gefunden:
http://peter-matussek.de/Leh/V_13_Material/demos_lego/bibliographie.pdf

Jack Goody hat z.B. mündliche Kulturen an der Grenze zum Schriftgebrauch untersucht und festgestellt, dass mündliche Kulturen in einer Man-Welt leben. Man tut das, was in der Gruppe üblich ist, geht wesentlich auf in der Gruppe und schwingt mit ihr. Durch die Schrift ist es möglich, sich der unmittelbaren Kommunikation zu entziehen, sich zurückzuziehen und eigene, unhabhängige Weltbetrachtung vorzunehmen.

Ich habe schon oft über das Thema geschrieben, aber verstreut im alten Teppichhaus. Viel über menschliche Kommunikation zu wissen, ist meiner Ansicht nach die Voraussetzung, das Internet zu verstehen. Ich wundere mich immer über die Naivität der selbsternannten Internetexperten. Sie wissen so gut wie nichts über die Voraussetzungen medialer Kommunikation, und am wenigsten wissen jene, die am lautesten tönen.

Wir haben uns übrigens schon einmal mit dem Thema beschäftigt, und du hast da auch kommentiert:
http://abcypsilon777.blog.de/2009/04/05/gute-nachricht-glueck-selbstvergessen-5894651/
videbitis (Gast) - 12. Mai, 12:43

Ich erinnere mich, habe sogar den Illich über Fernleihe bestellt und kopiert, aber noch nicht gelesen.
Ich-Identität als Effekt der Schrift - wäre noch mal ein Dreh weiter, aber hast du ja gar nicht geschrieben.
Ich wünschte, ich könnte mir eine Online-Vorlesungsreihe von Dir ansehen und -hören, in der Du zu diesem Thema alles haarklein aufdröselst. Das ist natürlich viel Arbeit, und die 10-Minuten-Häppchen von youtube sind arg kurz, man müßte eine andere Plattform finden - ich bin sicher, Du hättest viele interessierte Zuhörer und -schauer (allein schon durch die Verlinkung hierhin: http://www.world-lecture-project.org/). Hast Du sowas schon mal angedacht?
videbitis (Gast) - 12. Mai, 12:46

Ach so - danke für die vielen Tipps, ich brauche unbedingt noch ein zweites Leben. ;-)
Trithemius - 13. Mai, 12:03

Ich habe nicht behauptet, dass ein Angehöriger einer mündlichen Kultur sich nicht als Einzelwesen erlebt, wenn er Schmerz oder Lust empfindet, gemeint ist die moderne Ich-Identität, das allein in die Welt geworfen sein.

Dein Vorschag ehrt mich. Derzeit fehlen mir die technischen Möglichkeiten. Würde ich eine solche Seminarreihe ausarbeiten, dann wohl auch besser für den Vortrag im fassbaren Leben. Hab schon lange so etwas vor und auch sporadisch einiges zusammengestellt, aber die Initialzündung fehlt noch. Denn ich bin leider auch ein schrecklicher Prokrastinierer. Immerhin arbeite ich gelegentlich an einem Manuskript, das die in den beiden Teppichhäusern verstreuten Texte zusammenfast. Ist aber viel Arbeit wegen der thematischen Überschneidungen. Da fehlt mir auch ein zweites Leben, vor allem eines, in dem ich mit mehr Nachdruck arbeite ;)

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