Jedermann sein eigner Zeigestock
von Trithemius - 14. Mai, 11:46
Mein Mitschüler Paul, ein unruhiger Bauernsohn, immer von einem leisen Misthauch umweht, wird nicht viel aus der Schule mitgenommen haben, außer der Dresche, die er tagtäglich von Hauptlehrer Schmitz bekam. Pro Halbjahr zerschlug Schmitz einen Zeigestock, überwiegend auf Paul. Allerdings zielte der Lehrer nicht, schlug mehr ins Ungefähre, so dass auch Pauls Nachbarn sich unter dem Zeigestock ducken mussten. Wer als erster mit dem neuen Stock geschlagen wurde, gab ihm ungefragt seinen Namen. In den drei Jahren, die ich unter der Fuchtel von Hauptlehrer Schmitz verbrachte, nannte er jeden neuen Stock „Onkel Paul“. Der arme Paul wurde also von sich selbst geschlagen, und traf der Stock mal mich oder einen anderen, dann war’s wieder Paul, der uns wehtat. Er war dann auch gemieden und ist immer etwas kümmerlich geblieben.
Drei Schuljahre saßen bei Schmitz in der Oberklasse. Wer ein bisschen geschickt war, lernte schon im sechsten Schuljahr alles, was der Hauptlehrer in seinen wiederkehrenden Vorträgen zu bieten hatte. Man brauchte während der Stillarbeit nur mit einem Ohr zuzuhören, was Schmitz dem siebten oder achten Schuljahr beibrachte. Aber Paul konnte sich einfach nichts merken. Nur eines hatte sich bei ihm festgesetzt, dass nämlich die Fliege Facettenaugen hat. Tatsächlich hatte er aber nur das Wort Facettenaugen behalten, denn wenn er wiedergeben sollte, was der Lehrer im Naturkundeunterricht ins Heft diktiert hatte, glänzte Paul mit Facettenaugen. „Der Storch hat Facettenaugen“, sagte Paul, die Katze hatte auch welche, selbst der Hase verfügte darüber. Nichts davon wurde je richtig gestellt, denn wenn Schmitz einen Schüler abhörte, saß er mit geschlossenen Augen am Pult, und nur ein leichtes Fingertrommeln verriet, dass er nicht schlief. Das Fingertrommeln jedoch hatte Zeichencharakter, denn solange Schmitz trommelte, musste man reden. Allein auf den flüssigen Vortrag kam es an. Wenn Schmitz dann zum Notenbuch griff und sein kryptisches Urteil hineinschrieb, durfte man sich setzen.
Einmal schlug Schmitz mich aus nichtigem Anlass derart heftig, dass ihm die Uhr vom Arm flog. „Man merkt, dass dir der Vater fehlt!“, giftete er, nachdem er sich an mir abreagiert hatte. Ja, mein Vater fehlte mir, nachdem er plötzlich gestorben war, aber nicht als Prügelmeister. Anschließend durfte ich drei Tage nicht in den Klassenraum, musste im Flur vor der Tür stehen. Außer der Einsicht, dass Willkür und Niedertracht ein schulamtlich verliehenes Privileg war, habe ich nichts Wesentliches bei Schmitz gelernt. Im Gegenteil, er brachte mir bei, das Rechnen zu hassen, denn wenn er übler Laune war, hagelte es Kettenaufgaben als Kollektivstrafe für ein winziges Vergehen. An denen saß man den ganzen schönen Nachmittag. Eigentlich habe ich das meiste außerhalb der Schule gelernt, durch eigene Anschauung und unbotmäßiges Lesen. „Der liest ja soviel!“, sagte Schmitz meiner Mutter, und das war ein Vorwurf.
Tatsächlich las ich nicht nur aus Neugier, sondern auch, um einer Autorität widersprechen zu können, die sich als Hohlkopf entlarvt hatte. Daher rührt mein Zweifel an allen Autoritäten. Damit bin ich immer gut gefahren. Durch glückliche Umstände habe ich nicht mehr Schule erlebt, als ich ertragen konnte. Schon bald war die Setzerei meine Universität, und als ich später studierte, war ich rasch enttäuscht von dem, was mir die ausgewiesene Universität zu bieten hatte. Will sagen, ein wacher Mensch braucht nicht viel Schule, ja, es ist beinah besser, um alle Schulmeister und Universitätslehrer einen großen Bogen zu machen, die sich nicht als kritische Köpfe zu profilieren wissen. Wenn wir die derzeitige desolate Situation im Bildungswesen beklagen, dann sollten wir nicht vergessen, dass nur die Eigentätigkeit des Menschen im Stande ist, ihn zu bilden. Alles andere ist Dressur. Man kann an deutschen Gymnasien mit einer 1,0 aus einer Abiturprüfung gehen, ohne einen einzigen eigenen Gedanken geäußert zu haben.
Derzeit lese ich Ivan Illichs radikale Schulkritik: "Entschulung der Gesellschaft". Es ist ein Werk, das ich jedem empfehle. Illich zeigt, wie Schulen und Universitäten die Unbildung produzieren, wie Schule junge Menschen schon früh in Klassen einteilt und jene aus den unteren Schichten daran hindert, das Selbstwertgefühl zu entwickeln, das erst die Voraussetzung von Lernen und Bildung ist. Illich propagiert das Lernen nach Neigung, das sich am besten in Netzwerken organisieren lässt. Er hat, als er "Entschulung der Gesellschaft" schrieb, noch nichts vom Internet wissen können. Hier lassen sich seine Ideen auf nahezu wunderbare Weise verwirklichen, wenn wir nämlich die Netzwerke des Internets als Chance begreifen, voneinander zu lernen und so unseren geistigen Horizont zu erweitern. Diesem Gedanken ist auch die Idee der offenen Bloguniversität verpflichtet.
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Drei Schuljahre saßen bei Schmitz in der Oberklasse. Wer ein bisschen geschickt war, lernte schon im sechsten Schuljahr alles, was der Hauptlehrer in seinen wiederkehrenden Vorträgen zu bieten hatte. Man brauchte während der Stillarbeit nur mit einem Ohr zuzuhören, was Schmitz dem siebten oder achten Schuljahr beibrachte. Aber Paul konnte sich einfach nichts merken. Nur eines hatte sich bei ihm festgesetzt, dass nämlich die Fliege Facettenaugen hat. Tatsächlich hatte er aber nur das Wort Facettenaugen behalten, denn wenn er wiedergeben sollte, was der Lehrer im Naturkundeunterricht ins Heft diktiert hatte, glänzte Paul mit Facettenaugen. „Der Storch hat Facettenaugen“, sagte Paul, die Katze hatte auch welche, selbst der Hase verfügte darüber. Nichts davon wurde je richtig gestellt, denn wenn Schmitz einen Schüler abhörte, saß er mit geschlossenen Augen am Pult, und nur ein leichtes Fingertrommeln verriet, dass er nicht schlief. Das Fingertrommeln jedoch hatte Zeichencharakter, denn solange Schmitz trommelte, musste man reden. Allein auf den flüssigen Vortrag kam es an. Wenn Schmitz dann zum Notenbuch griff und sein kryptisches Urteil hineinschrieb, durfte man sich setzen.
Einmal schlug Schmitz mich aus nichtigem Anlass derart heftig, dass ihm die Uhr vom Arm flog. „Man merkt, dass dir der Vater fehlt!“, giftete er, nachdem er sich an mir abreagiert hatte. Ja, mein Vater fehlte mir, nachdem er plötzlich gestorben war, aber nicht als Prügelmeister. Anschließend durfte ich drei Tage nicht in den Klassenraum, musste im Flur vor der Tür stehen. Außer der Einsicht, dass Willkür und Niedertracht ein schulamtlich verliehenes Privileg war, habe ich nichts Wesentliches bei Schmitz gelernt. Im Gegenteil, er brachte mir bei, das Rechnen zu hassen, denn wenn er übler Laune war, hagelte es Kettenaufgaben als Kollektivstrafe für ein winziges Vergehen. An denen saß man den ganzen schönen Nachmittag. Eigentlich habe ich das meiste außerhalb der Schule gelernt, durch eigene Anschauung und unbotmäßiges Lesen. „Der liest ja soviel!“, sagte Schmitz meiner Mutter, und das war ein Vorwurf.
Tatsächlich las ich nicht nur aus Neugier, sondern auch, um einer Autorität widersprechen zu können, die sich als Hohlkopf entlarvt hatte. Daher rührt mein Zweifel an allen Autoritäten. Damit bin ich immer gut gefahren. Durch glückliche Umstände habe ich nicht mehr Schule erlebt, als ich ertragen konnte. Schon bald war die Setzerei meine Universität, und als ich später studierte, war ich rasch enttäuscht von dem, was mir die ausgewiesene Universität zu bieten hatte. Will sagen, ein wacher Mensch braucht nicht viel Schule, ja, es ist beinah besser, um alle Schulmeister und Universitätslehrer einen großen Bogen zu machen, die sich nicht als kritische Köpfe zu profilieren wissen. Wenn wir die derzeitige desolate Situation im Bildungswesen beklagen, dann sollten wir nicht vergessen, dass nur die Eigentätigkeit des Menschen im Stande ist, ihn zu bilden. Alles andere ist Dressur. Man kann an deutschen Gymnasien mit einer 1,0 aus einer Abiturprüfung gehen, ohne einen einzigen eigenen Gedanken geäußert zu haben.
Derzeit lese ich Ivan Illichs radikale Schulkritik: "Entschulung der Gesellschaft". Es ist ein Werk, das ich jedem empfehle. Illich zeigt, wie Schulen und Universitäten die Unbildung produzieren, wie Schule junge Menschen schon früh in Klassen einteilt und jene aus den unteren Schichten daran hindert, das Selbstwertgefühl zu entwickeln, das erst die Voraussetzung von Lernen und Bildung ist. Illich propagiert das Lernen nach Neigung, das sich am besten in Netzwerken organisieren lässt. Er hat, als er "Entschulung der Gesellschaft" schrieb, noch nichts vom Internet wissen können. Hier lassen sich seine Ideen auf nahezu wunderbare Weise verwirklichen, wenn wir nämlich die Netzwerke des Internets als Chance begreifen, voneinander zu lernen und so unseren geistigen Horizont zu erweitern. Diesem Gedanken ist auch die Idee der offenen Bloguniversität verpflichtet.
Aufruf zu einem Experiment - Freitag, 28. Mai 2010Wir vertrauen nicht der politischen Kaste, wir lassen uns nichts vordenken durch Institutionen und Medien, wir bilden uns.Ich würde mich freuen, wenn sich hier in nächster Zeit Diskussionen entwickeln zu den unterschiedlichsten Themen, die wir besprechen als Gleiche unter Gleichen. Den Anfang werde ich am Freitag, dem 28. Mai 2010 machen. Das erste Thema soll Ivan Illichs Streitschrift "Entschulung der Gesellschaft" sein. Wer mitmachen will, sollte das Buch vorab lesen. Wenn das Experiment der "Freitagsdiskussion" erfolgreich ist, werde ich sie fest im Teppichaus einrichten. Sie wird dann jedesmal bis zum darauffolgenden Sonntag gehen.
Gefaellt mir richtig gut, das hier (und das nicht etwa, weil hier der Bakel ''Onkel Paul heißt, hehe...)
Finde es sehr beaengstigend, dass du und deine Klassenkameraden und Leidensgenossen noch Opfer der alt-paedagogischen Muehle ward und der Zuechtigung im Namen des Bildungsauftrages ausgesetzt wurdet. Da fallen mir jetzt wieder all die Romane von Hesse, Musil und und Hoervath ein. Oder die Anfangsszene aus H. Manns ''Professor Unrat''...schrecklich sowas.
Ein genialer Literaturtipp anscheinend, dieser Illich. Also, ich bin schon einmal dabei bei dieser Aktion und dem von dir als Desiderat ausgesprochen offenem Forum und werde dem Lesebefehl fristgerecht folgen und meinen Senf dazu abgeben.
Wie du den Autoren wiedergibst, klingt er schon ein ganzes Stueck weit entspannter als das angst-generierende Buch eines anderes Paedagogen, Michael Winterhoff, das ich soeben begonnen habe und dessen Titel eigentlich schon signalschreckfarben toent: ''Warum unsere Kinder Tyrannen werden...''
was den viel bedeutenderen nicht-schulischen Bildungsweg angeht, so kann ich dir nur recht geben. Sicherlich ist dieser vor allem sehr gangbar fuer Leute mit einer hohen auto-didaktischen Disposition...will heißen: dazu gehoert auch immer ein geruettelt Maß an Lernwilligkeit und vielleicht gar: -lust...
Ja, wundervoller Vorschlag also: lernen wir endlich voneinander...nutzen wir das Bloggen intelligent (vielleicht schimpfe ich dann ja demnaechst auch zunehmend weniger daruber, hehe)...bin dabei!
Und damit froh gestimmte Gruesse ins Teppichhaus
einer meiner Taufnamen ist übrigens auch Paul. Der Paul des Textes hieß tatsächlich so. Wir waren nicht befreundet, aber ich habe ihm hier ein kleines Denkmal gesetzt, weil er weit mehr unter dem Hauptlehrer Schmitz gelitten hat als ich. Als Schmitz gestorben war, stand ich als schwarzgewandeter Messdiener an seinem offenen Grab und habe freudig das Weihrauchfass geschwungen. Als Lehrer habe ich ihn immer als Negativbeispiel vor Augen gehabt und nach Kräften versucht, es besser zu machen. Es wäre hier noch hinzuzufügen, dass ich auch andere, wesentlich bessere Lehrer hatte, von denen ich sehr wohl viel gelernt habe. Über die Lehrerin, die mir Schreiben und Lesen beigebracht und den Grundstein für meine Lust an Sprache und Schrift gelegt hat:
http://trithemius.twoday.net/stories/3522264/
Auf Ivan Illich bin ich bei meinen Schriftforschungen aufmerksam geworden. Sein vergriffenes Büchlein: Illich, Ivan: Schule ins Museum. Phaidros und die Folgen, Bad Heilbrunn 1984, hat mir viele Impulse gegeben. Eine beeindruckende Betrachtung seines Wirkens bietet Barbara Duden:
http://www.pudel.uni-bremen.de/pdf/BD_ABSCH.pdf
Das Buch des Psychiaters Michael Winterhoff habe ich kürzlich in der Buchhandlung gesehen. Es steht wohl schon länger auf der Spiegel-Bestsellerliste. Mich schreckt schon der Titel und das vereinnahmende "unsere Kinder", die ja folglich allesamt Tyrannen sind. Meine vier Kinder sind keine, ganz im Gegenteil rücksichtsvolle Menschen. Ich weiß nicht, ob sich der Mann den Buchtitel selbst ausgedacht hat, aber "Tyrannen" das ist ja wohl ein großes Wort für kleine Menschen. Du sagst treffend "angst-generierend". Es passt in die Zeit der großen Verunsicherung.
Die autodidaktische Disposition liegt bei jedem Menschen vor. Ich habe mich immer gewundert, wie die Schule es schafft, den neugierigen und freudig lernenden Erstklässlern das autodidaktische Lernen auszutreiben. Hier bietet Illich einen Erklärungsansatz, und er ist insoweit deprimierend, als selbst verantwortungsbewusste Lehrerinnen und Lehrer dem Heimlichen Lehrplan innerhalb der Institution Schule kaum entkommen können. http://de.wikipedia.org/wiki/Heimlicher_Lehrplan
Das ist ein Grund, warum ich meine Tätigkeit am Gymnasium freudig aufgegeben habe, denn ich sah mich bedroht, ein zynischer Unterrichtsbeamter zu werden, wie es vielen Lehrern ergeht, die mit großem Idealismus begonnen und unter den Widrigkeiten der Institution Schule ihren Glauben an die gute Sache verloren haben.
Ich blogge schon immer mit aufklärerischen Absichten, habe auch früh die emanzipatorischen Möglichkeiten innerhalb des Internets gesehen und freue mich, jetzt einen Ansatz gefunden zu haben, der ausdrücklich betont, was ich verstreut schon oft geschrieben habe.
Besonders freue ich mich, dass du mitmachen willst.
Viele Grüße
Jules