Abendbummel - Kalte Hände und frische Banknoten

Draußen warten die Eisheiligen, heute Eyjafjallajökull, morgen tritt Mamertus hinzu, übermorgen herrscht Pankratius, am 13. Mai Servatius, gefolgt von Bonifatius und der kalten Sophie. Ich musste Geld aus dem Automaten ziehen. Es war frisch gedruckt. Gegen besseres Wissen trug ich es in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Hier war mir schon mehrmals eine schlechte Stimmung unter den Angestellten aufgefallen.

Auch heute wurde wieder gestritten, als ich in der Kassenschlange stand. Zwei Kassiererinnen, Rücken an Rücken, sprachen über die Schulter hinweg von Mobbing unter den Kollegen. Ich erinnere mich noch gut an Zeiten, als dieser Supermarkt zu einer anderen Kette gehörte. Da trugen die Kassiererinnen Kittel mit der Aufschrift: „Wir werden Sie begeistern.“ Mir haben sie damals Leid getan, denn der Slogan war eine höhnische Etikettierung; sie wurde von den realen Arbeitsverhältnissen und Verhaltensweisen Lügen gestraft, wenn zu Stoßzeiten die Kassenschlangen herandrängten.

Herzfehler
Die Bediensteten der Supermärkte müssen nicht begeistern. Man muss mir die jüngsten Sonderangebote nicht besingen oder eurythmisch vortanzen. Ich will auch nicht von den Angeboten in den Wahnsinn getrieben werden. Geniale Kunstwerke in der Metzgerei-Bedientheke - bitte nicht. Mir reicht es, wenn ich bedient werde von Menschen, die ausgeglichen wirken und gelegentlich Freude an ihrer Arbeit zeigen. Das lässt sich nicht durch Kittelaufschriften verordnen, sondern liegt allein am Betriebsklima. Und das wiederum hängt von menschlichen Arbeitsbedingungen ab.

Für das Management vieler Großunternehmen sind menschliche Arbeitsbedingungen keine rechnerische Größe, weil sie ihre Arbeitnehmer primär als Kostenfaktor sehen. Das ist die logische Konsequenz einer politisch gewollten gesellschaftlichen Entwicklung. Wenn man sie nicht mehr durch alberne Kittelaufschriften zu kaschieren versucht, wenn man zulässt, dass die Kunden sich vernachlässigt fühlen, weil ihnen sogar die letzte Zuwendung, der Gruß, verweigert wird, dann wird greifbar, dass die wahren Eisheiligen im Berliner Regierungsviertel und in den Vorstandsetagen sitzen, und das über den 15. Mai hinaus. Dafür bekommen wir aber nach der ruinösen Eurostabiliserung immer öfter frisch gedrucktes Geld.

Guten Abend.
1956 mal gelesen
Mimiotschka - 10. Mai, 20:37

Sehr schön beschrieben.

Trithemius - 11. Mai, 09:50

Vielen Dank. Der Text ist meinem schlechten Gewissen geschuldet, weil ich mich grad mit der Form der Handschrift beschäftigt habe, derweil uns der Boden unter den Füßen verramscht wird.
Mimiotschka - 11. Mai, 11:16

Ich finde, dass die Beschäftigung mit der Handschrift durchaus ihre Berechtigung hat. Vermutlich hätten wir weniger Verramschungsproblme, wenn wir mehr Handschrift hätten.
Trithemius - 11. Mai, 12:54

Da haben Sie recht, Computer und Internet, mithin die unsinnliche Fernkommunikation haben das in unser Leben gebracht. Aber es stehen immer noch menschliche Entscheidungen dahinter. Heute schreibt Moritz Döbler im Tagesspiegel: "Eigentum verpflichtet, heißt es zwar im Grundgesetz, aber was soll derjenige damit anfangen, der einen Algorithmus für Transaktionen seines Rechners programmiert?"
http://www.tagesspiegel.de/meinung/getriebene-des-markts/1820800.html

In Art. 14, Abs. 2 des Grundgesetzes steht: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen". Dieser Passus mutet an wie ein Sprüchlein aus dem Auenland. Eigentlich müsste er geändert werden in: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Anleger und Spekulanten dienen"
kraM - 11. Mai, 12:03

passt ja wie die faust aufs auge zu meinem beitrag grade, quasi die sicht des kunden. ;) ich hab mal in einem supermarkt probegearbeitet, der liebt lebensmittel laut eigener aussage, seine mitarbeiter aber nicht, denn das klima war schlecht, man musste sich immer siezen (ich muss einen 18jährigen azubi im pausenraum siezen -.-) und der job war stressig und schlecht bezahlt. die formen wurden aber beibehalten, wie am fließband gab ich beim kassieren die grüße von mir "guten tag, möchten sie die quittung, schönen tag noch". alles noch nicht so schlimm im gegensatz zu anderen märkten, aber dass man die alten rauswirft und nur junge beschäftigt, weil die billiger sind, ist irgendwie doch ein bisschen unschön.

Trithemius - 11. Mai, 12:43

Ja, dein Text und der Kommentar bieten einen anschaulichen
Perspektivwechsel. Vielen Dank.
walhalladada - 11. Mai, 20:59

Sie begeistern mich, werter Herr Trithemius!


Trithemius - 11. Mai, 22:13

Und Sie erst, werter Herr Doktor!

Ausgenommen Geldtransporter
Geld genommen Austransporter
Aus Transporter Geld genommen
Geldtransporter ausgenommen.
Mimiotschka - 11. Mai, 22:19

Das Problem der parkenden Geldtransporter sollte sich doch in Zeiten des Onlinebanking erledigt haben.
Trithemius - 11. Mai, 22:49

Dann aber noch schnell hin

Duroy (Gast) - 13. Mai, 21:00

Hallo lieber Jules!

Du hast das sehr gut beobachtet.

Das ist auch wieder soziale Kaelte in Reinkultur, die man unter nahezu perfekten ''Versuchsbedingungen'' in den Billig-Discountern beobachten kann.

Nicht nur, dass da Mobbing galore angesagt sind, nein: die schiere Mischung aus Stress und Verzweiflung scheint auch dazu zu fuehren, dass sich die Mitarbeiter noch untereinander mobben.

Im Supermarkt meines Misstrauens um die ecke beobachte ich das immer wieder. Da schilt zB Mitarbeiterin A lautstark und unter sicherer Reflektion auf den Publikumseffekt (wir Kaeufer in der Schlange) ihre definitiv neu eingestellte Kollegin Mitarbeiterin B aus:
'' Frau Meyer, um diese zeit musst du aber die Kundenabwicklung eigentlich alleine auf die Reihe kriegen, kann nicht sein, dass ich hier noch eine Kasse aufmachen muss.''

Abgesehen, dass die Kombinationsanrede ''Herr/Frau Meyer, kannst DU mal...'' ohnehin unmoeglich ist, konnte einem die neue Mitarbeiterin Frau B nur leid tun, da sie ja nicht wie gewisse indische Goetter oder tentakel-beschenkte Mollusken von Mehr-Armigkeit profitiert und dennoch, nach meinem Befinden, schnell arbeitete.

Ja, wenn man das alles so beobachtet und auf sich wirken laesst: da hatte shaveskin (auf den du uebrigens einen unfassbar traurig-schoenen Nachruf verfasst hast) ganz recht...

wenn es mal nur die Eisheiligen waeren...die neue Eiszeit ist kultureller Natur und anthropogen...

nachdenklich gestimmte Grueße ins Teppichhaus

Trithemius - 14. Mai, 09:51

Lieber Duroy,

dankeschön für deinen anschaulichen Kurzbericht. Solche Bemerkungen über Kollegen kriege ich beim Discounter auch immer wieder mit. Erst letztens sagte die Filialleiterin an der Kasse zu einer anderen: "Ich hab den gefressen! Jetzt macht der schon ewig mit den Paletten rum!"
Der Stress nimmt diesen Leuten offenbar das Gespür dafür, was man vor Kunden sagen sollte und was nicht. Für mich ist es ein Grund, nicht mehr dort einzukaufen, denn ich will die dahinter sich zeigenden miesen Arbeitsbedingungen nicht auch noch unterstützen. Freilich befinden sich die Discounter ständig in einem Preiskampf, und irgendwo muss das Geld für die Preissenkungen ja herkommen. Also verringert man die Belegschaft und lädt den Verbliebenen immer mehr auf.

Die Anrede Herr/Frau in Kombination mit "du" ist ein Kuriosum, das mir auch gelegentlich begegnet. Da dreht sich mir das Sprachzentrum auf Links.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Nachruf geschrieben. Ich hoffe, es bleibt vorerst dabei, denn der Preis für eine damit verbundene gesellschaftspolitische Aussage ist doch zu hoch. Ich will jedenfalls hoffen, dass die kulturelle Eiszeit nicht erst verheerend sein muss, bevor die Leute wach werden.

Ebensolche Grüße
Jules
bill (Gast) - 21. Mai, 18:11

Menschen, die nur nach dem Geld schauen sind abgestumpft und langweilig. Die sollten ihre Freude woanders suchen. Bei Geld hört der Spaß ja bekanntlich auf.
Grüße, bill (braucht dringend etwas Glück)

Trithemius - 23. Mai, 05:40

Hallo Bill,

Glück ist ja eine individuelle Angelegenheit. Daher habe ich keine Glücksteppiche im Angebot, - aber philosophische Vitamine:

http://abcypsilon777.blog.de/2005/11/13/philosophische_vitamine~304724/

http://abcypsilon777.blog.de/2005/11/27/oben_auf_dem_lousberg_ein_sonntagswort_f~341938/

Grüße,
Trithemius
bill (Gast) - 24. Mai, 20:21

Hab Dank für den speziellen Vitamincocktail!
Hoffe er ist legal ;) http://www.youtube.com/watch?v=Rk3AktZh-gM

Das muss ein schöner Berg sein, von dem du da erzählst. Ich verstehe, dass du aus den genannten Gründen Glück nicht in deinem Sortiment hast.

Was würde die Stoa sagen, wenn man etwas so sehr will, was man nicht wollen sollte und alles dafür tut, dass es trotzdem wird, aber es auch geworden wäre, wenn man nichts dafür getan hätte, so dass es ein Glücksfall wäre. Ist er es dann trotzdem?

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