Der Laut des Besens
von Trithemius - 6. Apr, 12:00
"...wils Got haben, das ich die schrifft leren soll, so beschichts gewiszlich, dann Got ist alle ding moeglich." (Fabritius, 16. Jh.)
Mein erstes Buch war ein Bilderbuch, das mein älterer Bruder mir aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Es handelte von einer Osterhasenfamilie, die in Ostereierhäusern wohnte. Da gab es viel zu gucken, zu deuten und zu vermuten, doch wie die Dinge in der Osterhasenwelt nun wirklich zusammenhingen, konnte ich den Bildern nicht entnehmen. Da beneidete ich meinen Bruder, denn er verfügte über das Geheimwissen, das aus den Buchstaben kam.
Dieses Geheimwissen lehrte mich Fräulein Lamboy. Sie machte uns Erstklässler mit den Buchstaben bekannt, indem sie Geschichten aus ihrem Alltag erzählte. An eine erinnere ich mich noch: Sie war mit dem Zug im Kölner Hauptbahnhof gewesen. Da war ein Mann mit einem Besen und kehrte den Bahnsteig. Sein Besen machte: „ffff - fffff - fffffff." Und wie wir uns noch den Bahnsteigkehrer vorstellten, zeigte uns Fräulein Lamboy etwas Zauberhaftes. Den Ton des Besenstriches aus ihrem Mund konnte sie mit Hilfe eines Zeichens an die Tafel bannen und jederzeit in die Welt der gesprochenen Sprache zurückholen.
So lernte ich das „f“ und alle anderen Buchstaben des Alphabets über anschaulich vermittelte Laute. Mit jedem gelernten Buchstaben drang Schrift in meine Welt. Bücher begannen zu sprechen, und zum freiwilligen Lesen gesellte sich das unwillkürliche Lesen; Verpackungen offenbarten ungefragt ihre Versprechungen und Plakate riefen mir ihre eigennützigen Botschaften zu.
Fräulein Lamboy hatte schöne weiße Hände, anders als die groben Hände der Landfrauen. Einmal nahm ich mir die Bürste und scheuerte meine Hände über dem Waschbecken, bis meine Mutter mich fragte, was in mich gefahren sei. Da sagte ich ihr, dass ich so schöne weiße Hände wie Fräulein Lamboy haben wollte.
Doch Fräulein Lamboy hatte eine seltsame Krankheit, die sich just an ihren Händen zeigte. Im Laufe des Vormittags verkrampften sich ihre Finger und krümmten sich nach innen. Sie hielt dann die Kreide zwischen den verkrampften Fingern beider Hände. Wenn sie derart mit Kreide und Tafel zu kämpfen hatte, litt ich mit Fräulein Lamboy und hoffte für sie, dass der Unterricht bald endete, damit sie endlich mit dem Fahrrad zum Arzt des Nachbardorfes fahren konnte, der ihr täglich ein entkrampfendes Mittel spritzte.
Schreiben und Lesen
Die Chirospasmen meiner Lehrerin zeigten eindrucksvoll, dass Schreiben eine Auseinandersetzung ist zwischen Mensch und Material. Manchmal geht es nur mühsam, und dann heißt es, Selbstdisziplin zu zeigen und nicht zu verzagen. Die moderne Textverarbeitung lässt diesen haptischen Aspekt des Schreibens vergessen, weil der komplexe körperliche Vorgang auf den Tastendruck reduziert ist. Doch was leicht geht, hat auch geringeren Wert. So eindrucksvoll wie ein mit verkrampften Händen an die Tafel geschriebener Satz kann ein digital erzeugter Text niemals sein.
Wer viel schreibt, ist zudem geneigt zu vergessen, dass unsere Schrift die Sprachlaute abbildet. Dann verselbstständigt sich die Schrift, und man achtet nicht mehr darauf, wie das Geschriebene wohl klingt. Doch auch beim leisen Lesen bewegt sich die Stimmritze des Menschen unwillkürlich mit. Man darf also annehmen, dass ein Text besser aufgenommen wird, wenn er nicht nur gut aussieht, sondern auch angenehm tönt. Es klingt zum Beispiel nicht gut, wenn der Auslaut eines Wortes und sein folgender Anlaut identisch sind.
Auch Lesen ist ursprünglich eine Auseinandersetzung mit Material, es bedeutet "aufheben, verstreut Herumliegendes aufsammeln." Einen digitalen Text kann man nicht in die Hände nehmen, und daher ist er buchstäblich schwerer zu erfassen und zu begreifen.
26 Schlüssel
Fräulein Lamboy betreute unsere Leihbücherei. Als ich in der vierten Klasse war, bestellte sie mich zu sich nach Hause, weil ich ihr helfen sollte. Auf ihrem Wohnzimmertisch stapelten sich neue Bücher, die sie mit Rückenschildchen versehen und in Klarsichtfolie eingebunden hatte. Wir legten sie in einen Wäschekorb und trugen sie in die Bücherei. Dort räumte ich sie in die Regale, während Fräulein Lamboy die Karteikarten schrieb. Ich war glücklich, in dieser Wunderwelt der Bücherei sein zu dürfen. Und das Zeichen für den Laut des Besens war einer von 26 Schlüsseln, die ich Fräulein Lamboy verdanke.
(Schriftwelt im Abendrot)
2171 mal gelesen
Mein erstes Buch war ein Bilderbuch, das mein älterer Bruder mir aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Es handelte von einer Osterhasenfamilie, die in Ostereierhäusern wohnte. Da gab es viel zu gucken, zu deuten und zu vermuten, doch wie die Dinge in der Osterhasenwelt nun wirklich zusammenhingen, konnte ich den Bildern nicht entnehmen. Da beneidete ich meinen Bruder, denn er verfügte über das Geheimwissen, das aus den Buchstaben kam.
Dieses Geheimwissen lehrte mich Fräulein Lamboy. Sie machte uns Erstklässler mit den Buchstaben bekannt, indem sie Geschichten aus ihrem Alltag erzählte. An eine erinnere ich mich noch: Sie war mit dem Zug im Kölner Hauptbahnhof gewesen. Da war ein Mann mit einem Besen und kehrte den Bahnsteig. Sein Besen machte: „ffff - fffff - fffffff." Und wie wir uns noch den Bahnsteigkehrer vorstellten, zeigte uns Fräulein Lamboy etwas Zauberhaftes. Den Ton des Besenstriches aus ihrem Mund konnte sie mit Hilfe eines Zeichens an die Tafel bannen und jederzeit in die Welt der gesprochenen Sprache zurückholen.
So lernte ich das „f“ und alle anderen Buchstaben des Alphabets über anschaulich vermittelte Laute. Mit jedem gelernten Buchstaben drang Schrift in meine Welt. Bücher begannen zu sprechen, und zum freiwilligen Lesen gesellte sich das unwillkürliche Lesen; Verpackungen offenbarten ungefragt ihre Versprechungen und Plakate riefen mir ihre eigennützigen Botschaften zu.
Fräulein Lamboy hatte schöne weiße Hände, anders als die groben Hände der Landfrauen. Einmal nahm ich mir die Bürste und scheuerte meine Hände über dem Waschbecken, bis meine Mutter mich fragte, was in mich gefahren sei. Da sagte ich ihr, dass ich so schöne weiße Hände wie Fräulein Lamboy haben wollte.
Doch Fräulein Lamboy hatte eine seltsame Krankheit, die sich just an ihren Händen zeigte. Im Laufe des Vormittags verkrampften sich ihre Finger und krümmten sich nach innen. Sie hielt dann die Kreide zwischen den verkrampften Fingern beider Hände. Wenn sie derart mit Kreide und Tafel zu kämpfen hatte, litt ich mit Fräulein Lamboy und hoffte für sie, dass der Unterricht bald endete, damit sie endlich mit dem Fahrrad zum Arzt des Nachbardorfes fahren konnte, der ihr täglich ein entkrampfendes Mittel spritzte.
Schreiben und Lesen
Die Chirospasmen meiner Lehrerin zeigten eindrucksvoll, dass Schreiben eine Auseinandersetzung ist zwischen Mensch und Material. Manchmal geht es nur mühsam, und dann heißt es, Selbstdisziplin zu zeigen und nicht zu verzagen. Die moderne Textverarbeitung lässt diesen haptischen Aspekt des Schreibens vergessen, weil der komplexe körperliche Vorgang auf den Tastendruck reduziert ist. Doch was leicht geht, hat auch geringeren Wert. So eindrucksvoll wie ein mit verkrampften Händen an die Tafel geschriebener Satz kann ein digital erzeugter Text niemals sein.
Wer viel schreibt, ist zudem geneigt zu vergessen, dass unsere Schrift die Sprachlaute abbildet. Dann verselbstständigt sich die Schrift, und man achtet nicht mehr darauf, wie das Geschriebene wohl klingt. Doch auch beim leisen Lesen bewegt sich die Stimmritze des Menschen unwillkürlich mit. Man darf also annehmen, dass ein Text besser aufgenommen wird, wenn er nicht nur gut aussieht, sondern auch angenehm tönt. Es klingt zum Beispiel nicht gut, wenn der Auslaut eines Wortes und sein folgender Anlaut identisch sind.
Auch Lesen ist ursprünglich eine Auseinandersetzung mit Material, es bedeutet "aufheben, verstreut Herumliegendes aufsammeln." Einen digitalen Text kann man nicht in die Hände nehmen, und daher ist er buchstäblich schwerer zu erfassen und zu begreifen.
26 Schlüssel
Fräulein Lamboy betreute unsere Leihbücherei. Als ich in der vierten Klasse war, bestellte sie mich zu sich nach Hause, weil ich ihr helfen sollte. Auf ihrem Wohnzimmertisch stapelten sich neue Bücher, die sie mit Rückenschildchen versehen und in Klarsichtfolie eingebunden hatte. Wir legten sie in einen Wäschekorb und trugen sie in die Bücherei. Dort räumte ich sie in die Regale, während Fräulein Lamboy die Karteikarten schrieb. Ich war glücklich, in dieser Wunderwelt der Bücherei sein zu dürfen. Und das Zeichen für den Laut des Besens war einer von 26 Schlüsseln, die ich Fräulein Lamboy verdanke.
(Schriftwelt im Abendrot)
Du legst die Buchstaben so vor, das man sie gut aufheben und sortieren kann als Ganzes, gut Fassbares, Begreifliches.
Frau Lamboy hat dich offensichtlich so viel mehr gelehrt.