Abendbummel online - Die Fahnen der Kaufleute flattern viel schöner


Je trüber die Fassade,
desto wahrscheinlicher, dass in den Fensterrahmen noch ein fadenscheiniger Lappen eingeklemmt ist, der einmal eine Deutschlandjubelfahne war. Frischer und stolzer flattern die Fahnen der Kaufleute und Konzerne. Beides zusammen ist sinnbildhaft für unsere Republik.

Vor einigen Monaten hat ein Aachener Großbäcker seine kreativsten Leute um sich geschart und gefragt: "Was verkaufen wir zur Heiligtumsfahrt im Juni?"
„Windel-Jesu-Wrap!“
„Lendentuch-Christi-Printen!“
„Marien-Kleid-Kirschtaschen!“
„Pilgertaschen!“
„Aus Blätterteig?“
„Nein, Beutel mit Proviant und Infos!“
Das haben sie dann gemacht. Die gefüllten Pilgertaschen sind aus Nessel und tragen den hübschen blauen Aufdruck: „Pilgertasche“. Vor der Bäckerei am Dom ist ein Stand aufgebaut. Der hat oben zwei helle Lampen und dahinter steht eine Bäckereifachverkäuferin in Sandalen. Jeden Tag kommt eine andere dran, denn diese Tätigkeit ist offenbar anstrengend. Den ganzen Tag zu stehen und angegafft zu werden, da kann eine Bäckereifachverkäuferin schon mal den einen oder anderen Heiligtumsfahrer zum Teufel wünschen, vor allem, weil kaum einer eine Pilgertasche will. Dabei sind sie hübsch gefüllt und kosten dank Sponsoren nur fünf Euro. Vielleicht hätten sich blinkende Pilger-Elchgeweihe doch besser verkauft.

Die meisten der herumstreunenden Pilger sind Bummelanten. Sie zeigen keine Spur von der heiligen Raserei, wie sie aus dem Mittelalter berichtet wird. Freilich glaubte man damals noch an die Echtheit der Reliquien. Obwohl die Stoffteile bei ihrer Übersendung aus Jerusalem nach Aachen angeblich bereits tausend Jahre alt waren, wurde an ihnen nicht gezweifelt. Bis weit ins Mittelalter hinein hatte der illiterale Mensch noch kein lineares Zeitempfinden. Die immense Spanne zwischen Christi Geburt und seiner Zeit konnte er sich nicht vorstellen. Vor allem war er bereit zu glauben und verlangte nicht danach, genau zu wissen. Denn in der zuweilen finstren Welt voller Entbehrung, Hunger, Kriege, Seuchen und Unterdrückung waren viele froh um jeden Beweis der realen Existenz Gottes. Deshalb kam im Mittelalter die Sitte auf, den Anblick der Heiligtümer mit Spiegeln einzufangen.

Auf dem Aachener
Katschhof sind Stuhlreihen und ein großes Versorgungszelt aufgebaut. Gegen den Dom erhebt sich eine Konzertbühne. Hier werden bei der morgendlichen Pilgermesse die Heiligtümer gezeigt. Pressefotografen drücken gelangweilt auf den Auslöser, unfromme Pilger halten Digitalkameras oder Handys hoch; – was fangen diese modernen Spiegel eigentlich ein? Wieviel Glauben erlaubt das digitale Zeitalter? Geht noch ein Zauber von den Reliquien aus oder ist alles Folklore?

Die katholische Kirche hat sich einst auf große Inszenierungen verstanden, die das Herz des Menschen in Aufruhr versetzten. Eine Bühne, auf der heute Herbert Grönemeyer knödelt und morgen die Heiligtümer gezeigt werden, ist auch ein Indiz für die Nivellierung aller Werte. „Das Medium ist die Botschaft“, hat der Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan gesagt. Er wusste, wovon er sprach, denn er war Katholik.

Meist verstehen die Kaufleute McLuhan besser als die heutigen Kirchenvertreter. Die Fahnen der Kaufleute und Konzerne flattern viel schöner. Nur mit den Pilgertaschen hat einer daneben gegriffen.

Guten Abend
1371 mal gelesen
webgeselle - 7. Jun, 00:44

Der Glauben des digitalen Zeitalters...

... könnte der Glauben sein an - die digitale Technik; ich hatte des Öfteren schon diesen Gedanken, daß viele Zeitgenossen 40plus (so sagt man ja wohl) gegenüber PCs usw. Verhaltensweisen zeigen, die an Totemglauben oder Reliquienverehrung zumindest erinnern; nee, is' gar nich' witzig gemeint: ich hab es schon erlebt, daß ältere Kolleginnen sich nicht allein in den Raum trauten, in dem der Computer lief...

Trithemius - 7. Jun, 10:31

Daran ist wohl etwas Wahres ...

und es kehren magische Ideen zurück. Manche verknüpfen solche Ideen auch mit dem Netz.
webgeselle - 7. Jun, 23:39

(....?...)

... es ist aber hoffentlich schon rüber gekommen, daß ich dergleichen Anspielungen ironisch gemeint hatte...

Trithemius - 8. Jun, 00:35

Ach so,

nein, ich hatte dich nicht gemeint und auch die Ironie verstanden.
Careca - 8. Jun, 09:44

Und das von einem Bäckereigeschäft, auf dessen Schaufenster der Herr schon einen Stein vom Dom geschmissen hatte. Der Stein traf das Ziel, die Scheibe zerbrach, die Domfront wurde eingerüstet, aber das Geschäft besteht wohl noch immer. Was wird dem Herrn als nächstes Mittel einfallen? ... ;)

Trithemius - 8. Jun, 11:49

Vermutlich meinst du

die Bäckerei direkt am Dom. Das Bäckereicafé, das ich oft aufsuche, liegt auf der Ecke am Münsterplatz. Dort war zu deiner Aachener Zeit ein Spielwarengeschäft.

Jedenfalls ist die Geschichte vom HErrn, der mit Domsteinen nach den Händlern wirft, sehr schön. Früher war er offenbar weniger streng, denn wie ich einmal von einer Fremdenführerin hörte, befanden sich sogar in den Nischen der Dommauern Verkaufsstände.
Careca - 9. Jun, 00:22

Dort wo damals das neue Bistro geöffnet hatte? Vis a vis der Bank gegenüber? Da wo auch das Tonstudio warb?
Trithemius - 9. Jun, 12:53

Andere Ecke, ich zeige dir bald mal ein Bild.
Careca - 11. Jun, 21:16

Also doch am Geldbrunnen? Beim (ehemaligen?) Fotogeschäft? Also gen Mayersche?
Trithemius - 11. Jun, 21:44

Genau.
immekeppel - 8. Jun, 12:07

florierender handel

was dem ööscher si printe, sin dem kölsche si elefdousend jungfraue

Trithemius - 8. Jun, 12:46

Bisher kannte ich nur Domkölsch. Elftausend Jungfrauen? Wer soll die alle essen?
immekeppel - 10. Jun, 16:25

ach so, das war jetzt auf den reliquienhandel bezogen resp. die vermarktungsstrategien, man braucht halt so viele mädels, wenn man möglichst lange deren heilige knochen verscherbeln will - wer daran so alles nagt, weiß ich allerdigs nicht ;)

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