Jeder sein eigner Zeigestock (2) - Diskussionsrunde
Willkommen zur ersten Freitagsdiskussion im Teppichhaus. Unser heutiges Thema ist gleichsam programmatisch. Wir diskutieren Ivan Illichs Streitschrift „Entschulung der Gesellschaft“. Als der universelle Denker Illich seine Kritik an der Institutionalisierung des Lernens aufgeschrieben hat, war das Internet noch in weiter Ferne. Seine Vorschläge, Netzwerke für die freie, selbsttätige Bildung zu organisieren, lassen sich im Internet leicht verwirklichen. Wer sich in einer Sache auskennt, kann bei Wikipedia sein Wissen anbieten, seine Kenntnisse in Foren und Blogs. Wer sich über ein Thema mit anderen austauschen will, kann sie über das Internet finden. Diese Möglichkeit greifen wir heute auf.
Ich habe unsere Veranstaltung nicht inhaltlich, sondern formal gegliedert. Wir nähern uns dem Thema auf verschiedene Denkweisen, wie sie der englische Kreativitätsforscher Edward de Bono erdacht und praktisch erprobt hat, im 6-Hut-Denken.
Das 6-Hut-Denken ist in der Gifgrafik spielerisch veranschaulicht. Damit wir am heutigen Abend bis zur fünften, visionären Stufe gelangen, werde ich etwa alle 20-30 Minuten eine Zäsur machen. Bis Sonntag können jedoch weitere Kommentare abgegeben werden. Den in der Grafik fehlenden blauen Hut des Organisators dieser Diskussion muss leider ich tragen.
Für jeden der fünf Denkansätze ist nur ein Kommentarstrang vorgesehen. Jedem neuen Kommentarstrang werde ich den passenden Hut voranstellen. Ich bitte alle Teilnehmer sich den jeweiligen Hut aufzusetzen, auf die richtige Zuordnung zu achten und sich möglichst kurz zu fassen. Wir beginnen mit dem weißen Hut, setzen ihn auf und hüpfen hinein .....
Weißer Hut
Illichs Aussagen und die Abgleichung mit der beobachtbaren Realität ...
Zum Einstieg - die Situation in Deutschland
Im Jahr 2008 wurden 215,3 Milliarden Euro für Bildung, Forschung und Wissenschaft ausgegeben. Das entsprach einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 8,6 Prozent.
11,7 Millionen Schülerinnen und Schüler haben im Schuljahr 2009/10 allgemeinbildende und berufliche Schulen besucht. Auf 13 Schüler kommt je eine Lehrkraft. (Sekundarstufe 1/2007)
Im Wintersemester 2009/2010 lag die Anzahl der Studierenden an den Hochschulen bei 2,129 Millionen.
Wo liegt das Problem oder haben wir gar keines?
Das informelle Lernen muss stärker gefördert werden. Da es hierfür aber keine Nachweise oder Zertifikate gibt, kann man dies für den Arbeitsmarkt wenig nutzen. Leider ist diese ökonomische Denkweise für viele sehr bedeutend. Was nicht zertifiziert ist, hat wenig Wert bzw. wird der Wert nich erkannt. Wichtig wäre hier ein gesellschaftliches Umdenken um Fähigkeiten und Kenntnisse unabhängig von institutionalisiertem Lernen anzuerkennen.
Ich könnte noch mehr anführen, etwa der Umgang mit Gedichten, der fast immer kontraproduktiv war, oder die völlig abstrakte und hirnlose Vermittlung von Mathematik, die den meisten Schülern das Gefühl vermittelt, sie seien doof.
Eine Freundin erzählte mir, dass in der Grundschule ihres Sohnes nur Kinder aus gutbürgerlichen Familien zu finden sind. Als ein 'Problemkind' in die Klasse des Jungen kam, drängten viele Eltern darauf ihn los zu werden.
Wenn man bereits hier beginnt sich der gesellschaftlichen Realität zu verweigern fördert man die Ungleichheit. So werden viele Kinder bereits zu Beginn an den Rand gedrängt und es wird schwierig da gegenzusteuern.
Ein Ausbau des Bildungssystems, sagt Illich, wird diese Tendenz eher verschärfen als abbauen.
@KaterMurr: Das ist wahrscheinlich eine Wechselwirkung, oder? Hauptschulkinder, schon zur Schulzeit als blöd stigmatisiert, mit nur geringer Chance auf einen Ausbildungsplatz nach Wunsch, daß die schon früh keinen Bock mehr haben und lieber auf der Straße abhängen, kann ich gut verstehen.
@Videbitis
Ich arbeite in einem Intitut der Universität für einen berufsbegleitenden Weiterbildungsstudiengang. Seit Oktober ist das Institut der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät unterstellt. Das erste was dann von 'oben' bemängelt wurde ist der zu geringe Anteil von Dozenten mit Doktortitel. Wie gut die Dozenten sind sagt der Titel nicht aus. Jedenfalls nach meiner bescheidenen Erfahrung.
Pädagogen innerhalb der Institution Schule lehnt Illich ohnehin ab. Sogar die Reformpädagogik dient nach seiner Ansicht dazu, die Schüler auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit zu konditionieren, die letztlich den Untergang der Gesellschaften nach sich zieht. Er konnte in den 70ern noch nichts von der Finanzkrise wissen, aber den Raubtierkapitalismus und die Ausbeutung unseres Planeten hat er schon gesehen, und daher würde seine Idee von anderen Formen des Lernens auch gesellschaftliche Konsequenzen, eigentlich ein radikales gesellschaftliches Umdenken erfordern.
Ja, klingt wie Wunschdenken, aber wir können uns Gedanken machen, wie es von unten, z.B. übers Internet, angegangen werden kann. Später.
Sicher eine Wechselwirkung. Aber was geschähe, wenn in der heutigen Situation die Schulpflicht aufgehoben würde? Bildung durch Playstation etc; bzw. wie viele Schüler mehr würden dann auf den Schulstreß verzichten?
@ Eigene Faust:
Diese Schüler hätten aber auch wenig Chancen, in Bildungsnetzwerken (als Alternative zum Ausbau der Zwangsbeschulung) zu lernen, wenn Jobs nicht in Aussicht stehen und die Eltern mit .
@ Trithemius:
Ja, die Jobs, die es nicht mehr gibt - einerseits. Und die Unmöglichkeit, auch zu unangenehmen Anlässen zuverlässig zu sein, andererseits. Viele Eltern leben es vor...
In einem Netzwerk fänden solche Kinder – mutmaße ich mal optimistisch - eher Inhalte und Partner, die ihnen entsprechen und die Eltern möglicherweise auch.
So wie Schulunterricht im Moment organisiert ist, kann er das Lernen nur durch Zwang 'fördern'. Und das ist genau das Problem.
Ich halte es übrigens für völlig irrelevant, dass die Frau arbeitslos und alleinerziehend ist. Solche Texte lese ich eigentlich nur in der BILD!