Rein in die Wassersenke - Fahrt mit der Line 9 (2)

Folge 1

Da kommt die grüne Straßenbahn behäbig die Davenstedter Straße herunter. Die beiden Wagen sind locker besetzt. Ich finde einen Einzelplatz im Triebwagen. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann mit einem großen Buch auf dem Schoß. Er ist fast darüber zusammengesunken, und damit er nicht die Zeile verliert, hält er mit dem rechten Zeigefinger einen Lang-DIN-Briefumschlag darunter. An diesem Finger hat er einen silbernen Ring. Auf der anderen Seite des Ganges sitzt auf seiner Höhe ein Schwarzer. Er hat sich quer gesetzt, dem Gang zu. Gelegentlich sagt er etwas, aber der Buchleser reagiert nicht. Er ist auch gar nicht gemeint. Der Schwarze hat Stöpsel in den Ohren und telefoniert.

Hinter der Haltestelle „Schwarzer Bär“ rollen wir über die halbfertige Benno-Ohnesorg-Brücke. Rasch zieht die Ihme dahin, als wäre es ihr peinlich, dass sie sich mit ihrem schlammigen Wasser so breit gemacht hat. Man hat hier im Herbst begonnen, einen Teil des Ufers abzugraben, um den Flaschenhals entlang des Ihmezentrums zu erweitern, ist aber mit dieser Hochwasserschutz-Maßnahme nicht weit gekommen, weil zuerst ein paarhundert Bäume abgeholzt werden mussten, was viele Lindener erbost hat. Anfangs konnte nur unter massivem Polizeischutz gearbeitet werden.

Oberirdisch fährt die Linie 9 gerade mal 20 Stundenkilometer, aber wenn sich die Bahn über die provisorische Gleisführung der Benno-Ohnesorg-Brücke geschlängelt hat, rast sie die Rampe hinunter zum U-Bahnhof Waterloo. Die meisten Leute sprechen die Station englisch aus, denken vermutlich, sie ist nach Abbas Eurovisons-Hit benannt. Aber Waterloo ist ein Dorf in der belgischen Provinz Brabant, und die flämische Ortsbezeichnung bedeutet Wassersenke. Oberhalb der U-Bahnstation Waterloo befindet sich ein ehemaliger Exerzierplatz, heute eine große Rasenfläche, in deren Mitte sich eine 46,31 Meter hohe Siegessäule erhebt. Da filmte ich mal eine Polizei-Effekt(s)-Show. (Siegessäule bei 0:14 Sekunden).



Die sehe ich aber nicht, bin schon unter der Erde im weiß Gott hässlichsten U-Bahnhof Hannovers, zwei Bahnsteige und schmutzig grauer Beton, ohne jeden Schmuck. Hier steigt kaum jemand ein oder aus, warum auch? Im Sommer habe ich entdeckt, dass man mit dem Fahrrad durchfahren kann zur anderen Seite der vierspurigen Lavesallee. Dabei wird man gewiss gefilmt, denn die Zufahrt ist direkt neben dem niedersächsischen Innenministerium.

Fortsetzung
Dosenpfand und kleine Finger
2158 mal gelesen
Klar-a - 11. Jan, 19:44

so weit ist es jetzt gekommen....

nun mußte schon den Namen Benno Ohnesorg mit Wikipedia verlinken.....tststs...ist es das Alter? Nö nä????

Trithemius - 11. Jan, 19:47

Die Jüngeren unter uns werden kaum wissen, wer Benno Ohnesorg war. Dass er erschossen wurde, ist 44 Jahre her. Ich finde gut, dass in Hannover diese Brücke nach ihm benannt ist.
Klar-a - 11. Jan, 19:53

So genau wollte ich das mit dem Alter gar nicht wissen ;-((( Natürlich hast Du Recht...und alle Kaiser Wilhem Brücken und Prinzessin-hastenichtgesehen- Wege könnten eine deutlich bessere Namensgebung vertragen.
Trithemius - 11. Jan, 20:04

Ich kann ja auch nichts dafür. ;)
Ja, die deutschen Straßen und Brücken tragen manchmal Namen, da kann es einen nur schütteln.
Shhhhh - 12. Jan, 12:47

Ein wichtiger Grund, an der Station Waterloo auszusteigen, ist für mich die Bibliothek, die sich hinter den Steuereintreibern befindet.

Trithemius - 12. Jan, 14:59

Die vergaß ich zu erwähnen, bin auch noch nicht in der Leibnizbibliothek gewesen. Ich lebe ja erst seit zwei Jahren in Hannover.
Videbitis (Gast) - 12. Jan, 18:09

Vor fast 30 Jahren bin ich da andauernd aus- und eingestiegen, in der Nähe war meine Ausbildungsschule. Aber wie es da aussah - keine Erinnerung mehr, offenbar glücklicherweise. An eine Brücke, die nach Benno Ohnesorg genannt wird, war damals natürlich gar nicht zu denken. Aber inzwischen gibt es ja auch eine Rudi-Dutschke-Str., und wenn Rainer Langhans so weiter macht, wird er sogar Dschungelkönig.

Trithemius - 12. Jan, 18:35

Tja, wenn Rainer Langhans erschossen worden wäre, bräuchte er jetzt nicht ins Dschungelcamp einzurücken. Er ist aber sowieso nicht mit Dutschke oder Ohnesorg zu vergleichen, war wohl immer mehr eine Medienhure als ein Revolutionär.

Dass du mal in Hannover warst, wusste ich nicht. Vor 30 Jahren kannte ich aber von Hannover nur Kurt Schwitters Rückwärtsspielerei: "Re von nah"
Videbitis (Gast) - 12. Jan, 23:35

Woher auch, es sei denn, ich hätte ein Tag hinterlassen. ;-)

Medienhure ist das richtige Wort, ich befürchte, noch dazu eine ziemlich dumme.

Öffentliche Gebäude oder Plätze nach Personen zu benennen, egal nach wem, berührt mich eher unangenehm: Die "Geehrten" sind tot und können sich nicht mehr wehren, und die Ehrenden egal welcher Partei klopfen sich gegenseitig auf die Schulter und versichern sich, wie großartig sie sind, bei der Einweihung trinkt man billigen Sekt und pflegt das Gefühl: Alles wird gut. Daß die sogenannte undogmatische Linke nun ihre Helden und Opfer auf die selbe Art ehrt, ist ein wenig abstoßend, finde ich: Nur, weil die "68er-Revolution" (die sie ja sowieso nie war) gescheitert ist, heißt das doch nicht, daß man jeden bürgerlichen Scheiß mitmachen muß, oder?
Trithemius - 13. Jan, 11:29

Lässt du wenigstens die Dornröschenbrücke gelten? Dornröschen war ja nicht bürgerlich, sondern von Adel. ;)

Im Falle Benno Ohnesorg finde ich ungeachtet deiner Kritik die Namensgebung erfreulich. So wird wenigstens sein Andenken bewahrt.
Videbitis (Gast) - 13. Jan, 15:01

Ist genehmigt. Besonders gern erinnere ich mich an den Dornröschchen-Biergarte, der seinem Namen alle Ehre machte, so versteckt lag er. Ich habe gerade recherchiert: Es gibt ihn noch. Ganz unprätentiös gab es günstiges Bier nur in Halbliterflaschen, das man sich selbst am Ausgabefenster holen mußte. Da mitten im Grünen mit viel Ruhe an der Leine zu sitzen mit dem Wissen, daß die zweite Flasche gut gekühlt ein paar Meter weiter wartet - sehr schön!
Trithemius - 13. Jan, 20:56

Den Biergarten gibt es noch, an der ehemaligen Bettfederfabrik.

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