Abendbummel online - Alles hängt davon ab, von welcher Seite man durch die Scheibe guckt

Es ist bereits dunkel, und wir bummeln am Bahnhof vorbei die Straße hinunter. Dort gibt es einen Laden, dessen Eigentümer den Berufsstand der Schaufensterdekorateure verachtet. Der Mann hat eigene Vorstellungen von der richtigen Präsentation der Ware, denn er kennt seine Kundschaft und ihre Begehrlichkeiten.

Als junger Mann war ich Schriftsetzer, trug einen grauen Kittel und hatte handwerklichen Berufsstolz. Eines Tages kam ein Kunde in die Druckerei, der Kaffeefahrten veranstaltete. Er hielt mir einen alten Werbezettel unter die Nase und sagte, ich solle ihm einen neuen Zettel mit den aktuellen Daten setzen. Der Reklamezettel versammelte ein Dutzend Schrifttypen in allen Größen und Schnitten. In meinen Augen war das visuelle Umweltverschmutzung. Obwohl ich Kaffeefahrten nie für eine kulturelle Veranstaltung gehalten habe, hatte ich den Ehrgeiz, dem Kunden einen typographisch einwandfreien Werbezettel zu gestalten. Es ging um Berufsethos. Wenn ein zerschossener Mafiosi aufgefunden wird, sagt der Arzt ja auch nicht, den lasse ich so, wie er ist. Ich setzte den Zettel ab und gestaltete ihn völlig um, setzte nur eine Schriftart ein und gab den Inhalten gleichen Rangs auch die selbe Größe. Später wurde meine Neufassung zweitausend mal auf vierfarbige DIN-A5-Vordrucke gedruckt, die der Kunde angeliefert hatte. Dann kam der Kunde, um sie abzuholen. Die Zettel waren in handliche Pakete eingepackt, auf deren Stirnseite jeweils einer der Werbezettel klebte. Der Kunde beugte sich drüber und stieß einen Wutschrei aus. „Falsch! Alles falsch, die Zettel sollten genau wie die Vorlage gedruckt werden!“

Hier wache ichMein Chef kam in die Buchbinderei und musste sich anhören, dass der Kaffeefahrtveranstalter die Zettel nicht abnehmen würde. Und schlimmer noch, jetzt müsste er auch die teuren vierfarbigen Vordrucke nachbestellen. Das ganze sei eine Katastrophe und werde ihn vermutlich ruinieren.

Ich wurde zur Rede gestellt und versuchte dem Kunden zu erklären, warum ich seinen Zettel nicht nach der Vorlage hatte setzen können. Da rief er aufgebracht: „Die Gestaltung ist von Psychologen ganz genau ausgetüftelt worden. Daran darf nichts verändert werden, sonst wirkt er nicht!“

Er selbst war der Psychologe gewesen, ahnte ich. Denn besonders die windigen Vögel verstehen viel von angewandter Psychologie. Nur dann sind sie mit ihrer Bauernfängerei erfolgreich. Die verwirrende Typographie hätte ich also nicht in Ordnung bringen dürfen, denn das Ziel des Zettels war die Verwirrung der potentiellen Opfer. Diese Erfahrung lehrte mich etwas über den richtigen Zusammenhang von Form und Inhalt.

Dürfte ein Schaufensterdekorateur im Schaufenster des Fotos Ordnung machen, würde er vermutlich als erstes den Polizisten rausschmeißen. Später käme der Ladenbesitzer und würde rufen: „Wo ist mein Polizist? Wollen Sie mich ruinieren?! Dass der da steht, hat sich ein Psychologe ausgedacht. Denn wenn der Wachtmeister nachts nicht hinter meinen Waschmaschinen steht, hauen sie mir die Scheibe ein und klauen die Teile!“

Gute Nacht

Abendbummel online
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Careca - 13. Jun, 19:08

Es gab in der Jülicher einen Gebrauchtwarenladen. Stadtauswärts, linke Seite kurz nach der Abzweigung Europaplatz, fast neben dem Hotel. Der hatte so ein Werbeschild mit so einem karikierten Kopf (man mit Spitzbart; der Besitzer einmal unter diesem Schild und ich sah, dass es nicht wirklich eine Karikatur war). Dessen Schaufenster machte den Eindruck einer totalen Unordnung. Ich kannte einige, die dort immer reinliefen und mir erzählten, dass der Besitzer doch selbst nicht wüsste, was er in seinem Chaos für Schätzchen hätte. Aber glaub mir, niemand machte dort ein wirkliches Schnäppchen. Denn er wusste im Gegentum sehr wohl Bescheid über seine Waren.

Trithemius - 14. Jun, 22:09

Wenn ich mal in der Gegend bin, gucke ich, ob der Laden noch da ist. Denn wenn der Besitzer soviel vom Geschäft versteht, übersteht er auch konjunkturelle Krisenzeiten. Danke für deinen passenden Bericht.
Careca - 15. Jun, 15:50

Der hatte damals sein Geschäft zwischen Kirche und Redaktionslokal der damaligen ANONNCE verlegt. Aber es hatte dann entscheidend an Reiz von außen verloren. Wäre schon interessant, ob es diesen Kramwarenhändler noch gibt ...
webgeselle - 14. Jun, 01:54

Bei dem Versuch,...

... einen Zusammenhang zu finden zwischen dem Polizisten und der Waschmaschine, bin ich in hehre Höhen geraten, allerdings einigermaßen ergebnislos: Spezialwaschmaschine für Uniformen und Kampfanzüge?

Aber immerhin steht da keine Blondine mit oben ohne...

Schriftsetzer und Drucker sind ja wohl die Könige unter den Arbeitern/Handwerkern, sind sie nicht? - Und, ja, das ist das zermürbend Paradoxe an so Berufen in der Kommunikationsbranche: ich war ja mal an der Werbefachschule (habe ich schon erzählt), und diese Ausbildung war vorzüglich (was ich jetzt ohne alle Ironie gemeint habe), und frühmorgens habe ich aber auch noch Zeitungen zugestellt und mußte dabei aufpassen, daß es mir nicht ging wie einem Kollegen, der (kein Witz!), auf dem "Teppich" ausgerutscht ist, welcher sich in einem Hausflur aus den bunten Werbebeilagen gebildet hatte, und sich arg die Hüfte anknackste, und diesen Widerspruch zwischen der ausgezeichneten Lehre und diesem buntem Plunder habe ich auch nicht auf die Reihe gekriegt.

Paradoxeuropismus, sage ich doch; ich erwäge mittelernst, das Wort urheberrechtlich schützen zu lassen, ha!

Trithemius - 14. Jun, 22:15

Ehrlich gesagt,

habe ich auch eine Weile gerätselt, und dann erschien mir die Funktion als nächtliche Abschreckung plausibel. Wie das Schaufenster bei Tag wirkt, davon muss ich mich bei Gelegenheit überzeugen. Vielleicht steht der Polizist dann mit oben ohne da?

"Die Druckerei ist die Universität des einfachen Mannes", hat Abraham Lincoln gesagt, der wie Mark Twain ebenfalls Schriftsetzer gewesen war. Leider ist diese Universität seit dem Verschwinden der Gutenberg-Technik geschlossen.

Ich kann gut nachvollziehen, dass dir der bunte Plunder der Werbewirtschaft nicht geheuer ist.

Paradoxeuropistische Grüße
Trithemius

(Du verlangst hoffentlich keine Tantiemen von mir.)
webgeselle - 14. Jun, 23:23

Was sind Tantiemen?

Hä-ähm. - Und, nee: Polizist (männlich) dann wohl eher unten ohne, zwecks Abschreckung (kugelsicheres Kondom: schon wieder 'ne Geschäftsidee, ich komme irgendwann groß raus!)...

So was aber nun wiederum kommt dabei raus, wenn ich mal 'n volkstümlichen Witz machen will, ich lasse es lieber: ich werde nie Stammtischler...

Das wußte ich nicht, daß Lincoln und Twain Schriftsetzer waren; bei Twain überrascht mich das total, ich hatte immer im Hinterkopf, daß er Matrose gewesen wäre, eben wegen dem Namen: das ist ja wohl irgend so ein Schifferruf, "Mark Twain", die Höhe der Wassersäule unter dem Kahn beschreibend.

Vielleicht siehst Du das aber auch ein bißchen zu pessimistisch: eine, sagen wir: Bekannte von mir, hat als sehr spät Berufene 'ne Buchbinderlehre gemacht, und die kleine Werkstatt, in der die praktische Ausbildung zu absolvieren war (und in der wohl auch Schrift gesetzt wurde), war auf Monate ausgebucht: gerade voll digitalfahrende Zeitgenossen usw. entdeckten plötzlich, wie angenehm es ist, ein richtig gut gemachtes Buch in der Hand zu haben und ließen gar Firmenchroniken setzen und binden...

Aber war das nicht immer so, wenn irgendwelche "modernen" Techniken und Technologien "alte" solche zu verdrängen schienen? Die Literatur wurde auch als Moribunde betrachtet, als Radio und Fernsehen aufkamen: stattdessen entstanden neue Genres wie Hörspiel, Drehbuch usw.

Ha, nicht schlecht für einen depressiv Resignatiefsinnigen, oder? Hoho!
Trithemius - 15. Jun, 00:11

http://de.wikipedia.org/wiki/Tantiemen

Mark Twain hatte viele Berufe, und er war auch, wie du richtig sagst, Lotse auf dem Mississippi, später Journalist.
Eigentlich heißt er Samuel Langhorne Clemens und hat in der Tat sein Pseudonym vom Ruf des Matrosen "Mark one, Mark twain, ..."
Es gibt gewiss noch einige wenige Buchdruckereien, die bibliophile Bücher im Handsatz herstellen, doch es ist eigentlich ein museales Handwerk. Ich würde gerne nochmal mit der Hand setzen, hatte aber schon lange nicht mehr die Gelegenheit.

Schöne Grüße
Trithemius
medienjunkie2.0 - 14. Jun, 18:54

wahrscheinlich steht der polizist für die sicherheit, die die maschine einem gibt, weil niemals der schlauch platzen wird. vllt. hätte er noch besser den calgonmann aus der werbung dahinter gestellt.

Trithemius - 14. Jun, 22:18

Meinst du, diese Assoziation vermittelt sich? Ich denke bei Polizisten nicht direkt an Schläuche, sondern an Pusteröhrchen. Der Calgonmann wäre besser. Dem vertraue ich.

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