Ethnologie des Alltags

Was Deutschland zusammenhält - Ein Praktikant wird entmachtet - Schwerte ist nicht Schwerte

Pataphysische Forschungsreise (4.1)
Soest – Werl – Wickede – Fröndenberg – Schwerte - ca. 53 km
Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1 - Teil 2.2 - Teil 3.1 - Teil 3.2

Soest - Schwerte

Meine Moral ist im Keller, was nicht an den anzüglichen Wortspielen liegt, die mir in Soest unterkamen. Die Tour ist verflucht ungesellig. Ich treffe keine Radfahrer, fahre meine Texte spazieren und finde keine Gelegenheit zu lesen. Der ständige Regen zehrt an meinen Kräften. Inzwischen packe ich morgens nicht, sondern stopfe alles nur irgendwie in die Taschen. Ab und zu telefoniere ich mit meiner Freundin und lasse mich ein bisschen ermuntern. Aus Aachen ruft mein Freund Thomas an und fragt, wo ich bin.

„Hinter Werl, es geht bergauf und regnet wie Sau.“
„Ich habe drei Kerzen für dich in St. Foillan aufgestellt, damit das Wetter besser wird!“


Wer solche Unterstützung hat, ist nicht verloren. In Essen erwartet mich morgen Blogfreundin Klar-a, vorher werde ich meinen Sohn Malte treffen, der schon geraume Zeit im Ruhrgebiet lebt und mich ein Stück begleiten will. Das alles tröstet, aber ich kriege kaum noch die Pedale rund. In Werl habe ich mir flüchtig die Innenstadt angesehen, vor einer Bäckerei ein Käsebrötchen gegessen und mir die Fahrradhandschuhe mit Remoulade eingesaut. Regen und Remoulade verfolgen mich hartnäckig. Der Regen wird bald aufhören. Aber der heilige Foillan wird seine Mühe haben, denn das Wetter darf schon seit Tagen ein Praktikant machen. Die Remoulade könnte ich loswerden, indem ich unterwegs etwas anderes esse als Käsebrötchen aus der Bäckerei. Aber inzwischen plagt mich ein wissenschaftliches Interesse. Soll es denn tatsächlich so sein, dass man von Hannover bis Aachen Remoulade auf die Brötchen schmiert? Ist Remoulade am Ende der Stoff, der Deutschland zusammenhält?

Ich möchte nicht wissen, wie viel Remoulade täglich durch die Verdauungstrakte der Deutschen gepumpt wird. Und wo ist die Quelle? Wo entspringt der Strom? Gibt es irgendwo unter der Erde einen schwabbelnden Remouladensee, aus dem er machtvoll hervorbricht? Kann man Boot darauf fahren, ist er am Ende sogar schiffbar und fette Remouladenköche fahren Patrouille? Wann, wie und warum kam die Remoulade in Deutschland an die Macht? Wie gelang es ihr, die regionalen Vorlieben zu überfluten? So eine aufdringliche Soße, die alle Geschmacksknospen versklavt und ungemein träge macht, sollte sie nicht wenigstens erst ab 18 sein? Mit solchen Fragen lenke ich mich ab von der Steigung, die nicht enden will, weil Regen und Gegenwind mich ausbremsen.

Auf dem Höhenrücken biegt ein Weg ab in den Wald. Unten muss das Ruhrtal sein. Ein erhitzter junger Mann auf dem Mountainbike kommt mir entgegen. Ja, ich sei auf dem richtigen Weg. Gleich gehe es steil bergab, und hinter einer Schranke werde der Belag auch besser. Tatsächlich, die Abfahrt über den aufgeweichten Waldweg dauert nicht lange, da gibt der tropfende Wald mich frei, ich sause hinaus und bin in Wickede an der Ruhr. Inzwischen hat St. Foillan den Praktikanten abgewatscht, und sobald ich in den Ruhrtalradweg einbiege, kommt die Sonne hervor. Danke, Thomas! Danke, hl. Foillan! O du herrlicher Sonnenball, mein Herz hüpft! Ich setze mich auf eine Bank und lasse mich bescheinen. Ein Schmetterling fliegt vorbei. Er hat die Regenfluten überlebt, welch ein Glück für unsere Urenkel. Sie müssen sich vielleicht gar nicht von Remoulade ernähren. Jetzt ist die Killersoße auf ihrem Zenit, beherrscht das Land von Ost nach West, von Nord bis Süd. Aber es wird ihr gehen wie dem Toast Hawaii. Dereinst wird sie nur noch Folklore sein, und keiner will sie mehr haben. Wenn jetzt nur nicht in Erikas Kneipe der allwissende Akrobat vom Thekenhocker fällt, einen trunkenen Soester Schmetterling unter sich begräbt und alles verdirbt.

Der Ruhrtalradweg ist eine beliebte Radfahrstrecke. Er ist Teil der Kaiserroute, die von Aachen nach Paderborn führt. Schon sehe ich die vertrauten Hinweisschilder. Zweimal bin ich die Tour von Aachen aus geradelt. Ich treffe eine Familie, Vater, Mutter, eine Tochter, zwei Söhne. Sie sind bis Winterberg im Sauerland mit dem Zug gefahren und rollen von dort mit den Rädern zurück nach Duisburg. „Das ist wie Motorradfahren“, sagt der Vater. Im Ruhrtal muss aber wieder gestrampelt werden. Hinter Fröndenberg ist die Route nicht gänzlich flach. Manchmal ragen Bergzungen bis dicht an die Ruhr. Vor vier Jahren haben ein Freund und ich prima im Fröndenberger "Haus Ruhrbrücke" übernachtet. Heute komme ich aus der Gegenrichtung und erkenne das Hotel erst wieder, als ich auf der Brücke bin, wo der Radweg auf die andere Ruhrseite führt. Wie ich von der Brücke aus zurückschaue, wirkt alles wie früher. Der einzige Unterschied, ich habe mir heute Morgen beim Rasieren ins Philtrum geschnitten, und vor vier Jahren wusste ich nicht mal, wie dieser Bereich zwischen Nase und Oberlippe heißt, was vermutlich der Grund ist, dass ich mich woanders schnitt.

Sich ins Philtrum zu schneiden, das kann entstellen. Als ich noch für die Titanic „Briefe an die Leser“ schrieb, traf ich auf dem Titanic-Buchmessenfest einmal die Zeichnerin Hilke Raddatz. Sie macht die Karikaturen zu den Briefen, wenn ein Prominenter darin vorkommt. Jedenfalls, ach, guck mal, wie schön die Ruhr in der Sonne glitzert. Wie herrlich ist es auf der Sonnenseite des Lebens! Also, da sagte mir Hilke Raddatz, dass bei den Karikaturen der Bereich zwischen Nase und Oberlippe für das Wieder erkennen wichtig sei. Das wusste ich nicht, aber jetzt weiß ich, die Furche in der Mitte dieser Stelle heißt Philtrum, wobei Furche nicht wirklich trifft, denn es ist ja mehr ein sanftes Tal, das sich vor der Oberlippe zum Amorbogen aufschwingt. Der Amorbogen galt in der Antike als wichtige erogene Zone. Sonst würde er auch nicht Amorbogen heißen sondern vielleicht Oberlippenbraue. Oder Schwerte. Das ist aber nicht der sanfte Ausläufer des Philtrums, sondern unser Zielort, ein altes Ruhrstädtchen mit einem schiefen Kirchturm.

Man kann übrigens Schneider heißen und später Schwerte. Der ehemalige Rektor der RWTH Aachen hat es vorgemacht. Als eifriger Nationalsozialist war er Mitglied der verbrecherischen Organisation Ahnenerbe gewesen. Da hat er Hans Ernst Schneider geheißen. In den Nachkriegswirren ist er untergetaucht, seine Frau ließ ihn für tot erklären, und bald kam er als Hans Schwerte wieder ans Tageslicht und machte an der Hochschule Karriere. Es gab Mitwisser, doch man ließ ihn gewähren, behängte ihn sogar mit dem Bundesverdienstkreuz. Er war bereits 86 Jahre alt, als er von Reportern des niederländischen Fernsehens enttarnt wurde. Psychologisch interessant ist die Form des Namenswandels von Schneider zu Schwerte. Mit dem Schwerte schneiden. Bei solchen Assoziationen kriegt man das Gruseln


Ich ärgere mich, dass ich bei Schwerte immer an diesen Kerl denken muss. Das hat die Stadt nicht verdient. Die Menschen dort sind freundlich, wie überhaupt an der Ruhr. Jedenfalls kann ich über Schwerte nur Gutes sagen, aber zwei Punkte wären anzumerken:

1) Die Kirche mit dem schiefen Turm ist kein guter Veranstaltungsort.
2) In Schwerte finden rätselhaft surreale Schlemmerorgien statt.


Fortsetzung: Verwinkeltes im Inneren Kino - Traurige Gitarristen - Nie sah ich Bräute breiter beißen
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Ein Prost auf Soest - Brillanter Grund für Vandalismus - Sternstunden des Wortspiels

Pataphysische Forschungsreise (3.2) Soest
Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1 - Teil 2.2 - Teil 3.1

FahrtenschwimmerIn einer kleinen Soester Kneipe sehe ich erstmals auf dieser Reise eine Einrichtung im Gelsenkirchener Barock. Ich setzte mich auf einen Hocker an die Theke. Über dem Flaschenregal hängen Schalker Fanschals, rechts von mir blinkt und blubbert verlockend ein Spielautomat, aus den Lautsprechern schmalzt Wolfgang Petry. „Wolle“ hat zwar im Jahr 2006 seine Karriere beendet, aber seine Ohrwümer werden ihn in solchen Kneipen Jahrzehnte überdauern. Ich mahne mich, wenigstens auf zwei Bier zu bleiben. Immerhin bin ich besser dran als ein Ethnologe im Busch, dem der Dorfälteste fette Maden anbietet. Oder auch nicht. Denn Maden ringeln sich nicht in die Ohren.

Hinter der Theke steht eine verblühte Blondine. Auf der Rückseite ihrer hellen Jeansjacke ist mit silbernen Pailletten ihr Name aufgestickt. Wir nennen sie Erika, was aber nicht ihr richtiger Name ist. Ein fest gezurrter Gürtel bändigt nur unzureichend ihren Bauch. Die silbrig flitternde Erika hat fünf Gäste. Einer sitzt ganz in der Ecke hinter einer schmiedeeisernen Abtrennung und beobachtet schweigend das Geschehen. Ein zweiter sitzt trinkend hinter mir an einem der zwei Tische und kommentiert gelegentlich Dinge, die sich in seinem Kopf abspielen. Neben mir hat sich ein langer, dünner junger Mann akrobatisch auf den Hocker gefaltet. Ab und zu macht er hektische Bewegungen, holt ein Bein auf den Schoß zurück, das ihm entglitten war oder beugt sich nach seiner Zigarette, die ihm hinter die Fußstange gefallen ist. Er ist guter Dinge, lacht immer wieder vor sich hin wie ein Gott, der das ganze Weltgeschehen überblickt und all die Dinge versteht, die den Menschen verborgen bleiben, etwa: „Du bist noch nicht soweit, Erika, hehe, du bist noch nicht soweit!“

Das findet Erika auch. Sie pendelt einstweilen die wenigen Schritte zwischen Zapfhahn und Stirnseite der Theke. Dort sitzt ein Mann, der unaufhörlich auf sie einbrabbelt. Angenommen, du machst eine Zeitreise in das Mesozoikum und zertrittst da unachtsam einen Schmetterling. Dann kehrst du zurück in unsere Gegenwart, zurück in die Soester Kneipe, alles scheint wie gehabt, aber die Sprache der Menschen ist kaum noch zu verstehen. Sie artikulieren, du jedoch hast die Zunge quer im Maul und kannst das Deutsche nur lallen. Da sitzt du an der Theke, säufst ein Bier nach dem anderen und quatschst manisch auf Erka ein, die jetzt zwar Erika heißt, aber als einzige dich noch versteht. Ach, hättest du doch nur nicht den Schmätting zertreten.

Erika zapft mir ungefragt ein zweites Pils, aber das ist die einzige Regung, die sie mir zeigt. Hätte ich mich als Mann in eine Emanzenteestube verirrt, man könnte mich nicht abweisender behandeln. Der Hotelportier empfiehlt mir ersatzweise die Lamäng-Brasserie. Ich gestatte mir von der Homepage zu zitieren:

„Die Lamäng Brasserie Soest präsentiert sich auf 200 m2 verteilt auf 1 1/2 Ebenen mit einer offenen Atmosphäre, in der edle Hölzer, Messing und wunderschöne Jugendstilglasarbeiten interessante Akzente setzen. In den lichtdurchfluteten Räumlichkeiten, die sich durch ein ausgeklügeltes Beleuchtungssystem der Lichtstimmung draußen anpassen, bietet die Lamäng Brasserie für jeden einen brillanten Grund zum Verweilen.“


Jugendstilglasarbeiten? Wer hat die denn gemacht? Ein verfluchter Wiedergänger, ein Untoter aus dem Harem von Gustav Klimt? Das ist ein schöner Kitsch. Meine Herren! Da ist ja Gelsenkirchener Barock noch ehrlicher. Und den absolut „brillanten Grund“ wieder zu gehen, gibt mir das Baguette, das ich unvorsichtiger Weise bestellt habe. Ich beiße rein und schmecke den kulinarischen Höhepunkt all meiner Alpträume: Remoulade. Man hat Glück im verregneten Soest, dass Remoulade mich unmittelbar ermatten lässt, sonst würde ich auch "interessante Akzente" setzen. Dann könnten sie das Baguette von den „wunderschönen Jugendstilglasarbeiten“ putzen, „ausgeklügelt“ illuminiert, versteht sich.

Ich lege mich in
mein Hotelbett und drehe Soest den Rücken zu. Dieses schöne, historische Hanse-Städtchen ist ein kitschiges Geschichtsbuch, in dem Tausende Touristen stumpf herumtappen. Aber sie tun den Soester was an, vermitteln ihnen die trügerische Idee, man müsste ihnen dankbar sein, dass man sein Geld dalassen darf. Die ausländischen Hotel-Betreiber sind die lobenswerte Ausnahme. Das Zimmer, das sie mir gaben, ist klein, aber hübsch, mein Fahrrad steht sicher in einer großen Garage, und das Frühstücksbuffet ist reichhaltig.

Am Morgen regnet es wieder. Im Schaufenster eines Friseurladens hängt das lebensgroße Bild einer lasziven Frau. Sie ist geschminkt wie eine flippige Prostituierte, reißt den Mund weit auf und schreit: „Ich will, dass du kommst!“ Kurz hinter Soest im Dorf Ampen streckt mir von einem Plakat eine hübsche Frau ein Bügeleisen entgegen und ruft: „Ich will Ihnen an die Wäsche!“ Danke, die Sternstunden des Wortspiels haben die falsche Reihenfolge. Erst Bügeln, dann Kommen, aber nicht gegen Geld. Und außerdem will ich endlich ins Ruhrtal.

Fortsetzung: Was Deutschland zusammenhält - Ein Praktikant wird entmachtet - Schwerte ist nicht Schwerte
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Ein Polizist lässt mich klettern - Seltsame Gletscher in der Stromberger Schweiz - Wenig Staub in Soest

Pataphysische Forschungsreise (3.1) Gütersloh – Rheda – Stromberg – Herzfeld – Soest – ca. 60 km - Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1 - Teil 2.2

„Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.“ Wer sich diese Kalenderweisheit ausgedacht hat, der trage mal beim Radfahren Tage hintereinander eine Regenjacke, so dass er immer wieder nass von außen wird wie von innen. Und wer wollte behaupten, dass ihm egal ist, ob die Welt lichtdurchflutet ist oder regengetränkt und nebelverhangen? Wenn man bei Regen durch ein Waldstück fährt, droht der Trübsinn, denn es ist einsam und duster unter tropfenden Bäumen. Die Wege sind aufgeweicht, die Reifen schmatzen durch Schlamm oder tauchen in unwägbar tiefe Pützen. Der Rollwiderstand ist höher, vor Kurven muss man abbremsen, dahinter wieder beschleunigen, kurzum, eine Regenfahrt kostet mentale und physische Kraft.

Aus einem asphaltierten Waldweg kreuzt ein neuer VW-Kleinbus mit Hamburger Nummer, ein Mietwagen, vollbesetzt mit Männern, die mich hohläugig anschauen. Vielleicht eine Drückerkolonne, die auf einem Waldparkplatz übernachtet hat? Sie sind jedenfalls nicht auf Vergnügungsreise. Bis Rheda-Wiedenbrück sehe ich sonst keinen Menschen. Dort weisen die Fahrradwegweiser allesamt zum Schloss Rheda, und da geht es nicht weiter. Ich setzte mich in den Schlosspark. Die Wolkendecke scheint zum Greifen nah, hält aber ihr Wasser noch. Nach langer Zeit sehe ich mal wieder einen Radfahrer mit Gepäck. Er rollt wie ich bis zur Schlossmühle und wieder zurück zu den Wegweisern, wo ich ihn später antreffe, wie er ratlos seine Karte studiert. Es gibt unter den Radfahrern auch ungesellig Typen. Er ist einer, interessiert sich nur für seine Karte. Da habe ich keine Lust, ihm zu helfen, obwohl ich nach wenigen Metern durch die Altstadt den für ihn richtigen Wegweiser finde, er aber in die falsche Richtung strebt. Soll er suchen, bis er schwarz wird.

Ich sehe eine Polizeistation, gehe mein Sündenregister durch, aber da ich derzeit sauber bin, betrete ich das Gebäude und frage nach einer Radfahrstrecke Richtung Soest. Ein unglaublich zerknautschter Polizist in Zivil ist froh über die Abwechslung, verlässt seinen Schreibtisch und geht mit mir nach draußen. Wo der Amischlitten parke, da solle ich einbiegen, am Kreisverkehr Richtung St.Vit und weiter nach Stromberg fahren. Da geht es steil bergauf. Mein Gepäck will das nicht und macht sich schwer. Ich habe versäumt, die Regenjacke auszuziehen und bin darunter klatschnass, als ich oben in Stromberg ankomme. Hier solle ich noch mal fragen, hat mir der Polizist geraten. Ich spreche einen Mann an, der auf dem Weg in eine Reinigung ist. Oja, er kennt eine schöne Strecke, nämlich durch die Stromberger Schweiz.

Da fährt er manchmal mit seiner Frau. Da käme ich an einem Bauernhof mit einem eisernen Windrad vorbei, dann links und rechts und links, nein rechts, da gehe es den Berg hinunter, irgendwann käme auf der Ecke eine Autowerkstatt, aber das sei schon außerhalb der Stromberger Schweiz, an deren Anfang der besagte Bauernhof liegt, ich führe rechts dran vorbei, an der nächsten Kreuzung dann wieder links, oder ich könnte da auch rechts fahren und erst später links abbiegen. Während seiner interessanten Wegbeschreibung, bei der wir die Stromberger Schweiz von hinten bis vorne durchstreifen, tropft mir unentwegt der Schweiß von der Stirn. Nach einer Viertelstunde stehe ich in einer Lache. Inzwischen haben wir uns hoffnungslos in der Stromberger Schweiz verfahren, und er ist beinah so durcheinander wie ich, als ich mein Fahrrad entschlossen Richtung Stromberger Schweiz lenke.

Mehrmals sehe
ich den Bauernhof und sein eisernes Windrad, mal in der Ferne zu meiner Rechten, dann fahre ich links vorbei, wieder rechts, drehe auch mal eine Ehrenrunde auf dem Hof. Menschen zeigen sich nicht, aber viele Kühe. An einer Wegkreuzung sinke ich orientierungslos auf eine Bank, und die Kuh Nummer 31 gesellt sich zu mir an den Zaun. Solche Gesellschaft ist besser als gar keine. Eine seltsame Farbe und Konsistenz haben die hiesigen Gletscher. Sie sind dunkelgrün, und wenn ich nicht mitten in der Stromberger Schweiz wäre, würde ich denken, es sind Kuhfladen. Die Sonne lugt kurz durch ein Wolkenloch und zeigt mir die Himmelsrichtung. Sofort hebt sich meine Stimmung.

Auf einer Anhöhe liegt ein großes Gehöft. Vor ihm erstreckt sich den Hang hinab eine Hauswiese, groß wie zwei Fußballfelder. Auf dieser Wiese stehen unzählige Gänse. Wäre das eine feindliche Heerschar, die Stromberger Schweiz würde sofort ihre Neutralität erklären. Oben lagern die Gänse dicht an dicht und bilden einen weißen, dräuenden Wall vor dem Haupthaus. Vermutlich können sie St. Martin nicht erwarten oder sehnen Weihnachten herbei. Die Backröhre ist warm, und ihre Daunen haben Aussicht auf ein trockenes Bett. Andere Gänse hängen trotz des trüben Wetters noch am Leben, und so ergießt sich ihre weiße Flut über die Hangwiese bis zum Fahrweg hin. Sogar das angrenzende Maisfeld haben sie okkupiert, stehen da einfach nur rum oder haben sich trotzig in Schlammpfützen gelegt. Als ich in die Landstraße einbiege, fehlt auf der Ecke die Autowerkstatt. Aber ich will nicht in die Stromberger Schweiz zurück, um sie zu suchen. Autowerkstätten findet man auch außerhalb der Schweiz. Nur schade, dass während der ganzen Zeit kein einziger Alpenjodler zu hören war.

Pannenhilfe

Bald bin ich in
Herzfeld. Am Kreisverkehr gegenüber der mächtigen neugotischen Wallfahrtskirche mache ich Pause vor einem Café, sitze für einen Augenblick in der Sonne und bekomme meinen Schlag Remoulade untergejubelt, als ich ins Käsebrötchen beiße. Außer mir ist noch eine dicke Frau draußen. Sie trägt ein T-Shirt, als wäre Sommer befohlen, was aber bekanntlich nur bei der Bundeswehr gilt. Die zivile Welt muss sich mit den Unwägbarkeiten des Wetters herumschlagen. Manche gehen auch bei Sauwetter sommerlich gekleidet. Der Natur auf diese Weise zu trotzen, ist magisches Verhalten, ein kollektives Herbeiwünschen sonniger Tage. Diesen Schlechtwetterverleugnern ist vermutlich zu danken, dass der August 2010 nur der nasseste seit Beginn der Wetteraufzeichnung ist, nicht aber der nasseste August seit der Sintflut.

Es regnet wieder. Ich beschließe zu warten, aber das ist ein Fehler. Was den Kirchturm dunstig verhüllt, ist nur der Vorgeschmack. Bald bietet auch die große Markise keinen Schutz mehr. Bis Soest sind es nur 10 Kilometer, das tröstet. Ich zahle und fahre los. Wenn ich sage, es regnet dicht an dicht, dann scheint mir das Wörtchen „an“ viel zu breit. Da ist Platz für ein paar Hektoliter zusätzlich. Es ist grad so, als wollten mich die Götter ersäufen. Mir klappern die Zähne, und das liegt nicht allein an der holprigen Strecke und den Zweigen, die abgerissen von Regen und Sturm auf dem Fahrradweg liegen. Ich will Thilo Sarrazin heißen, wenn das nicht der heftigste Guss war, den ich auf meiner pataphysischen Reise abbekam.

Später geht vor mir ein Mann durch die Altstadt von Soest. Wie er einen Bekannten trifft, sagt er: „Es staubt heute nicht so!“ Diese launigen Worte gefallen ihm so gut, dass er sie noch mal von sich gibt, als er ein Café betritt. In Soest hat man Witz, mindesten einen, aber den Bürgern der hübschen kleinen Spießerstadt reicht's allemal. Sie sind sich selbst genug, denn sie wähnen sich im Nabel der Welt. Und der wurde heute gebadet.

Fortsetzung: Ein Prost auf Soest - Brillanter Grund für Vandalismus - Sternstunden des Wortspiels
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Tiefpunkt der pataphysischen Reise - in Gütersloh

Bad Oeynhausen – Herford - Bielefeld – Gütersloh - ca. 50 km Pataphysische Forschungsreise (2.2) - Teil 1.1 - Teil 1.2 - Teil 2.1

Irgendwann Ende der 60er Jahre wusste der Bürgermeister von Gütersloh nicht wohin mit einer leeren Zigarettenpackung, da hat er sie kurz entschlossen mitten ins Zentrum des Stadtplans gestellt und gesagt: „Das wird unser neues Rathaus.“ Da nahm der Sparkassendirektor zwei Streichholzschachteln, stapelt sie quer daneben und sagte: „Und das wird die Sparkasse. Geld und Politik müssen zusammenhalten.“ Der Bürgermeister beauftragte die besten Leute aus dem Liegenschaftsamt, der gelungenen architektonischen Lösung den letzten Schliff zu geben, und die hängten eine Uhr und ein Glockenspiel an die fensterlose Stirnseite. Fertig war das Rathaus. Und nebenan stand die Sparkasse.

Es herrscht da ein ständiges Kommen und Gehen, als ich gut 50 Jahre später am Gütersloher Rathaus vorbeirolle. Ich weiß nicht, was es ist, ob es die Durchquerung von Bielefeld war, die heimtückische Remoulade auf dem Käsebrötchen oder der Anblick des Gütersloher Rathauses mit Uhr und Glockenspiel auf der fensterlosen Stirnseite - ich bin auf einmal sehr müde. Ach, denke ich, die Leute hier sehen ganz und gar nicht so aus, als würden Sie meine Texte hören wollen. Hier brauche ich erst gar nicht zu fragen. Das ist natürlich eine Unverschämtheit gegenüber den Güterslohern. Aber wie da ständig welche ins Rathaus rennen, das verheißt nichts Gutes. Vermutlich müssen die Gütersloher Bürger einmal im Monat hin und kriegen dann im zuständigen Amt was zwischen die Hörner, damit sie willfährig bleiben.

Das würde erklären, warum diese Stadt keine nennenswerten Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Zwei Komiker stehen auf der Liste der berühmten Bürger und natürlich der Firmengründer Carl Bertelsmann, der im 19. Jahrhundert fromme Bücher gedruckt hat. An der Carl-Bertelsmann-Straße aber sitzt die Bertelsmannstiftung. Und das macht Gütersloh zur heimlichen Hauptstadt der Republik. Viele der Scheußlichkeiten, mit denen uns die neoliberalen Regierungen unserer Tage das Leben schwer machen, die hat man sich bei der Bertelsmannstiftung ausgedacht, die Eckpunkte von Schröders Agenda 2010 und mithin Hartz IV, die Studiengebühren, die neoliberale Ausrichtung der Hochschulen und des Arbeitsmarktes. Die Stiftung wächst beständig. Ihr gehören rund 77 Prozent des Medienriesen Bertelsmann, und weil die Stiftung weniger ausgibt als der Bertelsmannkonzern durch sie an Steuern spart, finanziert hier der Steuerzahler seinen eigenen Kriechgang in die Knechtschaft des Geldadels.

Bielefeld, das war Spaß, aber hier bin ich in feindseliger Stimmung. In Touristinformationszentralen legen sie keinen großen Wert auf durchreisende Radfahrer. Die geben kaum etwas aus in der Stadt, schlürfen abends nur eine 5-Minuten-Terrine, und am nächsten Morgen sind sie wieder weg. Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, sollte in der Touristinformation nicht nach einer Unterkunft fragen, das lerne ich in Gütersloh. Sie schicken mich jedenfalls zu einem nahen Hotel. Dessen Außenwerbung ist völlig verrottet, so dass ich zuerst gar nicht glaube, dass es noch besteht. Die Rezeption ist auf der ersten Etage, und wenn ich sage, der Teppich vor dem Aufzug war nicht sauber, dann ist das euphemistisch. Der Teppich ist ein lumpiges Bazillenmutterschiff. Seine Flecken beherbergen uralte Universen von Mikroben. Der Aufzug ächzt bedenklich. Er kann schon 20 Jahre nicht mehr. Aber der Tüv verweigert ihm böswillig die Verschrottung. Vermutlich sitzt da ein Schwager des Hoteliers.

Als ich den
Hotelier an der Rezeption sehe, wird mir ein wenig mulmig, und seine Freundlichkeit ist mir nicht geheuer. Aber das ist ein Vorurteil, durch sein Umfeld hervorgerufen. Wenn ihm Novizen mit Weihrauchfässern vorweg laufen würden, könnte er gewiss auch als katholischer Bischof durchgehen. Nein, er habe in seinem Hotel kein Zimmer frei. Aber in seiner Pension könne er mich für 30 Euro Vorkasse unterbringen. Ich weiß, dass es ein Fehler war, den Aufzug zu betreten. Mit dieser Entscheidung habe ich mich ausgeliefert. Jetzt ist mir alles egal. Ich händige dem Mann willenlos 30 Euro aus, er gibt mir einen Schlüssel, skizziert mir, wie ich die Pension finde, und schon bin ich auf der Treppe nach unten. Den Teppich schaue ich nicht mehr an, denn wenn ich Ekelherpes möchte, zahle ich nicht auch noch 30 Euro dafür.

Die Skizze stimmt nicht. An einer Tierbedarfshandlung frage ich eine Frau, die gerade mit ihrer Tochter aus dem Auto gestiegen ist, nach dem Weg. Wir sind uns sogleich sympathisch, und sie hilft mir nach Kräften. Garantiert würde sie mich bei sich lesen lassen. Aber ich habe leider schon die Pension bezahlt und den Schlüssel in der Tasche. Ja, so ist das, wer mit Vorurteilen in eine Stadt fährt, hat die bitteren Konsequenzen zu tragen.

Das unansehnliche Haus steht auf der Ecke einer stark befahrenen Straße. Inzwischen hat es heftig zu regnen begonnen. Die schmutzige Haustür, das vernachlässigte Treppenhaus, das alles ist mir egal. Ich will nur noch ins Trockene und ein Bett. Die Zimmer sind auf der ersten Etage. Man kann sich nicht verlaufen, denn der Treppenabsatz der zweiten Etage hat eine Barriere aus stark riechenden Schuhen. Hinter einer Tür tut sich eine große, fensterlose Diele auf, die eine Küche und einen Wohnbereich beherbergt. Mein Zimmer liegt zur Straße hin. Es ist ziemlich geräumig, weshalb ich in den Keller gehe und mein Fahrrad hoch hole. Ich will es lieber bei mir haben. Im Keller läuft eine Waschmaschine, und vor ihr auf dem Boden … was ist das? Sind es nasse Lumpen? Ein Toter, der sich festgetreten hat? Zweifellos bin ich auf einer pataphysischen Forschungsreise, aber das zu erforschen, dazu bin ich einfach zu schwach. Beim erneuten Aufschließen der Tür habe ich die Klinke in der Hand, und ich beschließe, sie vorerst mit hinein zu nehmen. Einst hatte das Zimmer Wandleuchten, doch davon sind nur noch die Kabel da. Es gibt aber in die Decke eingelassene Spots, scheinbar wahllos angeordnet. Erst am späten Abend erkenne ich darin das Sternbild des großen Wagens. Ob seine Hinterachse aber genau zum Polarstern zeigt, kann ich nicht überprüfen, der Regenwolken wegen.

Das Bett steht unterm Fenster, und so wiegen mich prasselnder Regen, zischende Reifen und der brausende Verkehr in den Schlaf. Als ich erwache, tönt RTL 2 durch die Diele, und raue Worte werden gewechselt. Ich gehe hinaus, um zu sehen, wer meine Nachbarn sind. Da steht einer in Unterwäsche, kämmt sich die frisch gewaschenen Haare und redet durch die offene Tür mit einem Zweiten. Man fühlt sich offenbar wie zu Hause, ist wohl schon länger in diesem Etablissement. Es gibt übrigens drei Duschen. In der größten hat der Unterhosenmann seine Utensilien ausgebreitet. Die angrenzende Dusche liegt voller Schutt. Die dritte ist so eng, dass man für die erforderlichen Bewegungen einen Plan machen muss. In allen Duschen sind Fliesen heraus geklopft, so dass man einen guten Eindruck von der Beschaffenheit und Anordnung der Rohrleitungen bekommt. Wenn jemand zufällig einen Film über eine Räuberhöhle drehen will, ich wüsste eine passende Location.

In der Not wächst das Rettende auch. Unweit der Pension finde ich die restaurierten Ziegelgebäude einer alten Weberei. Darin ist ein Kulturzentrum untergebracht sowie ein großes Lokal mit mächtigen Belüftungsrohren an der Decke, einer Theke im Loungestil und tätowierten Kellnerinnen. Durch eines der großen Fenster sehe ich im Schein einer Hoflampe den Regen gülden aufleuchten. Ich esse eine leckere Pizza, trinke das eine oder andere Pils und schreibe in mein Büchlein. Als mich eine junge blonde Kellnerin mit Pferdeschwanz später fragt, ob alles zu meiner Zufriedenheit wäre, das sage ich aufrichtig ja, nur hätte ich keine Bierschaumphobie, man habe mich bestimmt mit einem verwechselt, als man mir das letzte Pils zapfte. „Oh“, sagt sie, „das war bestimmt ich. Ich bin nämlich neu hier.“ „Gut“, sage ich, „dann werde ich demnächst mal über Sie schreiben, und wenn Sie mir Ihren Namen sagen, dann werde ich andere Pilstrinker vor Ihnen warnen.“ Sie heißt Yvonne. Und das schlecht gezapfte Pils hatte Yvonne mir gar nicht gebracht, sondern eine Kollegin. Aber wer so bereitwillig einen Fehler auf sich nimmt, verdient es, lobend genannt zu werden.

Die Weberei kann ich dem Reisenden empfehlen. Sie versöhnt mit Gütersloh. Man kann sich da sogar eine verrottete Pension schön saufen. Heiter gehe ich zu Bett, schlafe wie tot unter dem Großen Wagen, und als ich am nächsten Morgen die Dusche aufsuchen will, da steht der Unterhosenmann fertig zum Aufbruch. Er trägt die orangefarbene Warnkleidung eines Straßenarbeiters. Die Küche ist tipptopp aufgeräumt, das Geschirr sauber gespült, da werfe ich mich vor ihm auf die Knie und leiste Abbitte. Solche Straßenarbeiter verdienen Respekt, auch wenn sie in Unterhosen nicht schön sind und nach Feierabend RTL 2 schauen.

Bald breche ich ebenfalls auf. Vor einer Bäckerei frühstücke ich, bin aber irgendwie durch den Wind, so dass ich unachtsam ein Gesteck umwerfe und das gelbe Zeug verstreue, in dem ein paar künstliche Grashalme stehen. Eine Bäckereifachverkäuferin sitzt am Nebentisch, sagt, das wäre nicht schlimm und räumt alles wieder ein. Sie hat beste Laune, weil sie heute in der Zeitung steht. Ständig kommen Leute vorbei und beglückwünschen Sie. Man hat sie zu Google Street View interviewt. Das aber spielt keine Rolle, alle reden nur von ihrem schönen Foto. Es muss ein guter Fotograf bei ihr gewesen sein. Hey, denke ich, mit Google Street View könnte man auch die Pension sehen, der ich glücklich entkommen bin. Aber der schlaue Hotelier wird sie gewiss verpixeln lassen.

Fortsetzung: Ein Polizist lässt mich klettern - Seltsame Gletscher in der Stromberger Schweiz - Wenig Staub in Soest
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Falschrum durch Bielefeld - Zwei Cafehausbesitzer auf der Autobahn und ein schlecht gezapftes Pils

Bad Oeynhausen – Herford - Bielefeld – Gütersloh - ca. 50 km Pataphysische Forschungsreise (2.1) - Teil 1.1 - Teil 1.2

Es mag schön sein in Bad Oeynhausen und anderswo auch. Aber wenn ich morgens meine Packtaschen auf dem Gepäckständer meines Fahrrads befestigt habe und mich verabschiede, dann bin ich jedes Mal heilfroh, ein reisender Internetdichter zu sein, der alles hinter sich lassen kann. Ich steuere wieder den Bahnhof an, will mich bei den Taxifahrern bedanken für ihre gute Wahl der Pension, aber sie sind nicht da. Drei Taxifahrerinnen trinken Kaffee aus Bechern und unterhalten sich. An den Bahnhöfen kann man sich als Radfahrer gut orientieren, denn hier stehen die Hinweisschilder für alle Fahrradstrecken der Region. Die Art der Beschilderung ist freilich verbesserungswürdig. Selten sind die Fernziele angegeben. Auch gibt es unterwegs unerfreuliche Lücken, und manche Schilder weisen in die Irre. Ich will nach Herford und frage die drei Taxi-Damen nach dem Weg. „Was?“ ruft die dickste von ihnen, „mit dem Fahrrad? Da würde ich ja nicht mal mit dem Auto hinfahren!“

Bad Oeynhausen - GüterslohEs ist in Wahrheit nicht weit, allenfalls anstrengend, denn aus Bad Oeynhausen geht es lange Zeit bergauf. Die Luft ist schwül, der Himmel dicht verhangen, und manchmal tröpfelt es. Trotzdem genieße ich die Ausblicke auf Wiesentäler und bewaldete Anhöhen. Gestern im „Brösel“ habe ich Herforder Pils getrunken, genug, um meinen Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung zu bringen, denn ich war recht ausgelaugt von der Regenfahrt. Jetzt freue ich mich auf die Stadt, wo das Bier herkam. Inzwischen bin ich längst in Nordrhein-Westfalen, und warum sich Herford wie fast alle folgenden Städte mit dem Attribut „Fahrradfreundliche Stadt“ schmücken darf, verstehe ich erst richtig, als ich am Freitag die Landeshauptstadt Düsseldorf durchfahre, wovon ich jedem Radfahrer nur abraten kann. Jedenfalls sause ich hinab nach Herford, das verlogene Schild „Fahrradfreundliche Stadt“ wischt vorbei, und mein Rad hüpft über einen der übelsten Fahrradwege, der mir je untergekommen ist.

Herford hat eine schöne Altstadt. Während ich vor einer Kirche sitze, wird es für kurze Zeit hell, und sofort belebt sich die Fußgängerzone. Aus zwei benachbarten Cafes kommen die Besitzer und räumen Tische und Stühle auf den Platz. Sie sind Südländer, aber sprechen akzentfrei Deutsch. Der Kleinere will demnächst mit dem Auto nach Duisburg fahren und hat leichtsinnig seine avisierte Fahrstrecke preisgegeben. Zu seinem Unglück ist der Größere ein Stühle räumender Autoatlas. Er verlacht den Nachbarn wegen seiner Unkenntnis, sagt, welche Autobahnen er zu nehmen hätte, erklärt ihm noch mal und noch mal, wie falsch seine Planung ist, ja, wenn er in die Innere Mongolei wolle, dann wäre die Route richtig, aber nach Duisburg, so fährt man doch nicht nach Duisburg, wenn man die Siebenzwetschgen beisammen hat. So fahren noch nicht mal die dümmsten Idioten von Herford nach Duisburg, hehe. Sie fahren so und so.

Ich höre mir das eine Weile an, denn ich habe Zeit. Zu meinem ersten festen Lesetermin in Essen werde ich erst am Donnerstag erwartet. Die Strecke wäre in drei Tagen zu schaffen. Jetzt muss ich vier daraus machen, denn ich hatte den Termin verabredet, ohne eine feste Vorstellung zu haben, wie ich fahren will. Ich kenne viele, die nie in solche Verlegenheit geraten, immer alles genau planen, nie ohne Flickzeug fahren würden und auch immer die richtige Fahrtroute vor Augen haben. Selten beneide ich sie. Als Referendar hatte ich einen Kunst-Fachleiter, der stolz war, zusammen mit Joseph Beuys studiert zu haben. „Sie müssen antizipieren!“, mahnte er uns immer wieder. Guter Unterricht müsse vorausschauend geplant sein, und Imponderabilien sollten weitgehend ausgeschaltet werden. Das letztere habe ich schon damals nicht geglaubt und gedacht, das ist vermutlich der Grund, warum der eine Student später Kunstlehrer geworden ist und der andere Künstler mit Weltruf. Planen muss man, aber da müssen auch Leerstellen sein, damit sich das Leben entfalten kann. In meinem Leben hat es immer Imponderabilien gegeben, denn ich bin blauäugig von Beruf. Ich kann es nicht anders, es ist Teil der kreativen, pataphysischen Lebenshaltung. Deshalb schaue ich mit Sympathie auf den Kleineren, der von seinem Nachbarn so erbärmlich geschurigelt wird. Der ist vielleicht nur neidisch, weil er vor seinem Lokal deutlich weniger Tische und Stühle hat, obwohl er genau weiß, wie die dümmsten Idioten von Herford nach Duisburg fahren.

Mir ist ein bisschen mulmig, durch Bielefeld zu fahren. Nachdem mich Bielefelder wegen des YouTube-Filmes „In Bielfeld ist das Wegfahren am schönsten“ heftig beschimpft haben, bin ich vermutlich eine unerwünschte Person. Ich gerate auf einen Schotterweg, und würde der tatsächlich wie versprochen nach Bielefeld führen, müsste ich sagen, der Weg nach Bielefeld ist steinig und endet in der Einöde, wo Arbeiter im Becken einer neuen Kläranlage stehen und Kies harken. Als ich endlich einen Weg ins Zentrum finde, da ist es eine schier endlose, lärmende Straße durch ein Gewerbegebiet. Sie ist gesäumt von den versammelten Einrichtungen sozialer Deprivation, hat Spielhalle, Bordell, Pornoläden, Filialen zweier Fastfoodketten und eine Selbstwaschanlage, wo einhundert Bielefelder vorfahren können, um gleichzeitig ihr Auto zu waschen. Ich halte mich nicht lange auf in Bielefeld. Wenn man die Stadt verlässt, ist die Beschilderung prima, und der Randbezirk ist deutlich hübscher. Also finde ich das Wegfahren schon wieder am schönsten, aber bitte, liebe Bielefelder, mein Eindruck ist höchst subjektiv, denn es kommt ja darauf an, aus welcher Richtung man die Stadt durchquert.

Nach Gütersloh hin ist die Landschaft flach. Man sieht stattliche Bauernhöfe, umgeben von Kastanien und anderem Gehölz inmitten großer Hauswiesen. In Gütersloh sollte es junge Katzen, Hunde und Meteorologen regnen. In weiser Voraussicht halte ich an einer einsamen Konditorei und stärke mich, esse draußen am Tisch ein belegtes Brötchen zum Kaffee. Von Hannover bis Aachen jubeln sie dir in den Bäckereien einen Schlag Remoulade unter, heimtückisch verstecken sie das Zeug unter einem Salatblatt. Vermutlich wollen sie dem Kunden eine freudige Überraschung bereiten, wenn er ins Brötchen beißt, und in alle vier Himmelsrichtungen pratscht die Remoulade heraus. Auf einer Kreidetafel vor der Tür verheißt die Konditorei „Pflaumenzungen“. Ich durchsuche meinen faulen Nachmittagskopf nach Pflaumenzungen und finde Kartoffelaugen, hab schon welche ausgestochen, Knollennasen, Blumenkohlohren, Bananenflanken, Orangenhaut, Apfelbrüste, ja, sogar Pfirsichärsche und einige, die mir nicht einfallen, die kenne ich auch. Aber „Pflaumenzungen“? Nie gehört. Aber ich bin auch nicht von hier. Die Bäckereifachverkäuferin mag ich nicht fragen, als ich das Tablett zurückbringe, denn sie bündelt ächzend nicht verkaufte Zeitungen. Viele nicht verkaufte Zeitungen. Das geschriebene Wort hat es heutzutage schwer. Es ist einfach zu leicht geworden.

Das schlecht gezapfte Pils der Überschrift sollte ich in Gütersloh trinken. Aber das ist eine kleine Sache, kaum der Rede wert, denn als ich das schlecht gezapfte Pils bekam, saß ich eine Weile in angenehmer Umgebung und versuchte mir die Pension schön zu saufen, die man mir in der Gütersloher Touristinformationszentrale aufgeschwatzt hatte. Die Pension wäre zweifellos Luxus nach einem Atomschlag, aber wenn es nur regnet wie Sau …

Fortsetzung:
Tiefpunkt der pataphysischen Reise
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Ein Engländer gibt auf – Sonntag bei Frau Sonntag – Zwei Millionen schwule Väter

Einladung zur pataphysischen Forschungsreise - 1.2 - Teil 1.1 hier.

Bis Minden trotzen meine Schuhe dem Regen, dann geben sie auf und lassen das Wasser durch, gleichzeitig links wie rechts, als hätten sie sich abgesprochen. Vermutlich hat es etwas mit Quantenphysik zu tun. Da bin ich erleichtert, denn eine Regenfahrt wird erträglich, wenn man endlich durchnässt ist. Dann fügt man sich seinem Schicksal. Tatsächlich bin ich schon immer gern bei Regen gefahren, wenn dieser Zustand erreicht ist. Die Reifen zischen, es rollt gut, beinahe mühelos geht es leichte Steigungen hinauf, denn die Luft ist zum Saufen und enthält auch mehr Sauerstoff. Von Minden sehe ich nicht viel, bin gleich am Bahnhof und setzte mich unter ein Schutzdach. Die Bahnhofshalle ist auf der anderen Seite, aber da will ich nicht hin, suche nur ein wenig Trost. Den bekomme ich, denn ich höre die Lautsprecherdurchsagen, die Bahn fährt noch, es ist also weniger apokalyptisch als ich befürchtet habe.

Aber ich muss mir eingestehen, dass mein Konzept kaum aufgehen wird. Die Straßen sind leer, und wer doch vor die Tür muss, duckt sich unter den Regenschirm und hastet vorbei. Wer wird dann einen triefenden Internetdichter aufnehmen. „Ja, kommen Sie herein, mein Teppich muss sowieso mal wieder gewässert werden“, diese Rede erscheint mir unwahrscheinlich. Es gibt selbstlose Menschen, zweifellos. Aber sie zu finden, wird vielleicht eine Woche dauern. Ich hätte natürlich den Pressetext an die Zeitungen meiner Tour schicken können, hab’s aber zu spät bedacht.

Vor einigen Monaten war ich auf einem Bloggertreffen in Hannover und traf Felix Stein alias Frontbumpersticker. Unsere Begegnung verlief ein wenig frostig, denn wir hatten ein kleines Scharmützel gehabt wegen des Untertitels des Sammelblogs „Das bloggende Hannover“. Ich dachte, mach mal gut Wetter, und setzte mich eine Weile zu ihm, denn wenn wir auch anderer Meinung gewesen waren, schätze ich ihn doch wegen seiner Professionalität. Er sagte, er sei freier Texter und schob nach: „Wenn du mal einen Text brauchst …“ Da war ich ein wenig konsterniert und sagte: „Ich schreibe mir meine Texte selber.“ Während der Reisevorbereitung dachte ich, über die eigenen Sachen zu schreiben, das kann ich nicht gut. Also sprang ich über meinen Schatten, vergaß meine Eitelkeit und fragte ihn, ob er mir den Pressetext schreiben könne. Er hat es gemacht, und der Text ist wirklich prima geraten. Die Aachener Nachrichten, die einen Vorbericht und einen Nachbericht von meinem Auftritt veröffentlicht haben, konnten ihn gewiss gut verwenden. Wer also mal einen professionellen Text braucht … Felix Stein.

Wir müssen weiter, wer zu lange pausiert, der kriegt die Beine nicht mehr rund. Und der runde Tritt ist bekanntlich das Geheimnis des Radfahrens. Es lockt die Durchfahrt von Porta Westfalica. Der Taleinschnitt ist beeindruckend. Unfassbar steil ragt links das Wesergebirge auf, rechts, ein wenig unterhalb verläuft die Bahnlinie, dahinter ergießt sich breit und behäbig die Weser. Der Weg führt über die Brücke zum anderen Ufer, wo sich der Höhenzug fortsetzt. An der östlichen Flanke thront das Wahrzeichen der Stadt, das Denkmal zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. Das ist der Kerl, der Konrad Duden verboten hat, dem Wort Thron das „h“ zu nehmen, denn er wollte sich seinen Sitz nicht schmälern lassen, dachte wohl, der kaiserliche Hintern sei zu breit für einen Tron.

Er hat sich nicht selbst bemüht, Konrad Duden zurückzupfeifen. Das tat Reichskanzler Otto von Bismarck. Der hatte Duden beauftragt, ein Wörterbuch der deutschen Sprache aufzulegen, um das Rechtschreibchaos im Reich zu beenden. Der Urduden erschien 1880 als „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“. Bismarck hat seinen Beamten bei Strafe verboten, die revolutionäre Duden-Orthographie zu verwenden, und vermutlich tat er das nur wegen der Schreibweise „Tron“. Kurz vor seinem Tod erhielt der betagte Duden eine 2. Chance. Um nicht noch einmal anzuecken, ließ er unzählige Doppelformen zu, was wiederum den Buchdruckereiverbänden gegen den Strich ging, weshalb …

Wir sind schon auf der Brücke, die das Wesertal überspannt. Das Denkmal hoch oben ist regenverschleiert, und aus dem Wald ringsum dampft es in mächtigen Schwaden. Viel Farbe ist nicht in der Landschaft, abgesehen von der roten Regenjacke eines Radfahrers, der just unter der Brücke durchfährt. Er hat Satteltaschen auf dem Gepäckständer, und da bin ich froh, endlich einen Leidensgenossen zu sehen, aber nicht lange, denn rasch verschwindet er hinter einer Biegung. Ihn einzuholen, das dauert eine Weile, denn der Weg hinunter zum Weserufer macht eine große Schleife.

Es ist wirklich hübsch, entlang der Weser zu fahren, inmitten der Uferwiesen. Rechter Hand ragt der Höhenzug hinauf, und man ist froh, dass der Weg sich zwar immer wieder annähert, aber unterhalb bleibt und bei der nächsten Biegung wieder dem Weserufer zustrebt. Endlich taucht auch die rote Jacke wieder auf, und wie ich sie eingeholt habe, da steckt in ihr ein junger Engländer, die nackten Füße in Sandalen. Ich frage ihn, wohin er will, und er sagt, er wolle nach Belgien. Da hätten wir den gleichen Weg, denn Aachen liegt ja an der Grenze. Aber seine Moral scheint im Keller. Wie das Wetter werden soll, fragt er, und ich sage wahrheitsgemäß, dass mehr Regen versprochen wurde. Das gibt ihm den Rest, vielmehr bekräftigt seine Absicht, in Bad Oeynhausen in den Zug zu steigen und das ersaufende Deutschland sich selbst zu überlassen. Ich bin ihm auch zu schnell, weshalb er sich bald mit guten Wünschen verabschiedet und die Beine hängen lässt.

Bald verlässt mich auch die Weser. Der Weg folgt dem Zufluss der Werre bis ins Stadtgebiet von Bad Oeynhausen und führt mich stracks zum Bahnhof. Hier frage ich eine Taxifahrerin nach einer preiswerten Pension. Sie ruft einen Kollegen heran, und gemeinsam verhandeln sie, dass ich in die Pension Sonntag gehen soll, die zumindest im so genannten „Dichterviertel“ von Bad Oeynhausen liegt. Frau Sonntag hat, um mich einzulassen, ein Kartenspiel verlassen. Als ich mein Rad abgesattelt habe und den großen Wintergarten betrete, da sitzt sie wieder am Tisch mit zwei Freundinnen. Sie spielen mit einem dicken Packen Karten und haben zum Mischen einen Plastikautomaten, der mit einer Kurbel betrieben wird. Frau Sonntag lädt mich zu einem Kaffee ein, aber ich gehe zuerst hoch in mein Zimmer, hänge die nassen Sachen auf und lege mich für eine Weile aufs Bett. Später, ich bin wieder gesellschaftsfähig, da sitzen sie immer noch da. Ich trinke den Kaffee, und eine der Damen fragt mich, ob ich mit Ursula von der Leyen verwandt sei. „Zum Glück nicht“, sage ich arglos. Ich konnte ja nicht wissen, dass ich eine glühende Verehrerin vor mir hatte. Schon bin ich unten durch. Der Regen hat nachgelassen, und so beschließe ich einen Stadtbummel. Bad Oeynhausen ist wegen seiner Thermalsolequellen berühmt. Frau Sonntag empfiehlt mir, mich in eine hineinzulegen, aber ich bin froh, wieder trocken zu sein. Nach solch einer Regenfahrt können mir alle Thermalsolequellen der Welt gestohlen bleiben. Die Quellen von Bad Oeynhausen wurden im 18. Jahrhundert von Schweinen entdeckt. Sie hatten sich im Schlamm gewälzt und waren anschließend mit einer Salzkruste gepökelt. Bad Oeynhausen dankt es ihnen mit einem großen Brunnen im Zentrum.

In der Fußgängerzone lockt in einem Hinterhof das „Brösel“, ein Lokal mit holländischem Flair, denn es ist voll gestopft mit skurrilem Kram, so dass ein einsamer Thekengast genug zum Gucken hat. Hinter der Theke hängen Tafeln mit launigen Aufschriften. „Investiere in Alkohol – mehr Prozente bekommst du nirgendwo“, hängt direkt vor meiner Nase. Der solche Prozente vergibt, ist ein freundlicher junger Mann mit Pferdeschwanz. Man darf bei ihm rauchen, und über dieses lästige Thema kommen wir ins Gespräch. Da schaltet sich der Mann neben mir ein. Er ist ein schwuler Familienvater. Man sieht es ihm nicht an, aber er hat’s mir bald gesagt. 15 Wochen ist er bereits in Bad Qeynhausen in Therapie, denn sein Coming-out hat ihn aus der Bahn geworfen. Er hat eine Frau, zwei Kinder, war wohl ein glücklicher Familienmensch, bis er eines Tages in der Sauna bemerkte, dass er sich für Männer begeistern kann. Seine Frau hat’s vorher gewusst. Als er sich offenbarte, sagte sie: „Dass du schwul bist, hätte ich dir schon vor 20 Jahren sagen können.“ Es gibt, wie er sagt, in Deutschland zwei Millionen schwule Väter, und die Dunkelziffer sei noch mal so hoch. Wenn alles gut geht, werde ich einmal auf dem Bundestreffen der schwulen Familienväter in Göttingen lesen, obwohl ich kein schwuler Familienvater bin.

Fortsetzung: Falschrum durch Bielefeld - Zwei Cafehausbesutzer auf der Autobahn und ein schlecht gezapftes Pils
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Einladung zur pataphysischen Forschungsreise (1.1)

Hannover – Bad Nenndorf – Stadthagen – Bückeburg – Minden – Bad Oeynhausen – ca. 88 km - Teil 1.1

Mit meinem neuen Fahrrad war ich kaum gefahren, und wie es sich verhält, wenn es mit Gepäck beladen ist, wusste ich noch gar nicht. Aber als ich kurz hinter meiner Haustür in Hannover-Linden schon mal gut um die erste Ecke kam, fasse ich Mut, und tatsächlich erwies sich das Fahrrad während der Fahrt nach Aachen als zuverlässiger als ich, fuhr ohne zu Murren über die übelsten Hindernisse, fädelte sich stabil durch dichten Verkehr, hat sich sogar bewährt, als ich einmal versehentlich auf eine Mountainbike-Strecke geriet, und vermutlich kann ich mich rühmen, der erste Idiot zu sein, der das steinige Steilgelände mit Gepäck befuhr. Ich entschuldige mich keinesfalls für die Länge des Satzes, denn eine Fahrradtour hat leider solche Passagen, die sich ziehen und ziehen, und wenn man glaubt, bald am Ziel zu sein, ist man meistens doch noch nicht da – wie hier.

Hannover-Bad Oeynhausen

Glücklicherweise verbirgt sich schon bald die Sonne, und kurz hinter Hannovers Stadtgrenze kommt der versprochene Regen auf. Das nimmt mir die Sorge, ich würde Wind- und Regenjacke nur spazieren fahren, was unser Verhältnis ein bisschen belastet hätte. Ich habe auch eine kurze Hose im Gepäck, und die spazieren zu fahren, ist weniger schlimm, denn sie wiegt nicht viel. Einmal sieht sie das Licht der Sonne, aber sie muss warten, nämlich bis zum Ruhrtal, und da sind wir noch lange nicht. Auf die Etappe nach Bad Oeynhausen habe ich mich gefreut. Schon oft bin ich mit dem Zug durch Porta Westfalica gefahren, wo die Weser das steil aus der Ebene aufsteigende Weser- und Wiehengebirge durchschneidet. Aber sitzt man in einem rasenden Zug, fliegt man rascher durch, als ein Hund auf den Bürgersteig köttelt. Da habe ich mir jedes Mal gewünscht, ein wenig länger zu verweilen, damit ich in Ruhe gucken kann, also nicht auf den Hund, sondern auf die landschaftlich faszinierende Porta Westfalica.

Vorher fahre ich
durch Bad Nenndorf, wo ich auf der Kundenbank vor einem geschlossenen Autohandel pausiere. Da zweifele ich, ob es gut war, an einem Sonntag zu starten, denn ich habe zwar so manchen Schnickschnack bei mir, aber die Tasche mit dem Flickzeug klemmt noch gut in Hannover unter dem Sattel meines alten Fahrrads. Vermutlich scheute ich mich, das arme Ding so einfach zu berauben. Man wird mir wieder nachsagen, ich wäre zu blauäugig, wenn ich mir einen Platten fahre und kanns nicht selber richten. „Typisch", werden sie sagen, wenn ich erzähle, ich hätte mitten in der Walachei im strömenden Regen einen Platten gehabt und stundenlang schieben müssen. Auch schleift irgendwas an meinem Fahrrad, und was es genau ist, kann ich nicht lokalisieren. Ich habe die Hinterradbremse in Verdacht. Aber sie ist es nicht, wie ich erst in Bad Oeynhausen herausfinde. Der Regenschutz für mein Gepäck drückt das dünne Plastikschutzblech auf den Reifen. Das kann man ohne Werkstatt beheben, ist nur ein Handgriff, wenn man weiß, woran es liegt. Die Aussicht auf kluge Sprüche jedenfalls macht mir die Beine ein bisschen schwer.

In
Bückeburg halte ich erneut, stehe aber nur kurz unter einer Arkade in der Fußgängerzone, rauche und schaue in den Regen. Hier war der Heidedichter und Journalist Hermann Löns von 1907 bis 1909 Chefredakteur der Schaumburg-Lippischen Landes-Zeitung. Er wird wohl ab und zu besseres Wetter gehabt haben. Mehr kann ich über Bückeburg nicht sagen, allenfalls, dass ich ein junges Paar anspreche und nach dem Weg frage. Die Frau zuckt mit den Schultern, aber er weiß bescheid und erklärt mir freundlich und recht ausführlich, wo ich langfahren muss. Man kann sich das natürlich schlecht merken, wenn einem der Weg zu genau beschrieben wird. Nach fünf Wegmarken, hat man den Anfang schon vergessen. Das geht einem beim Lesen nicht anders, weshalb hier der erste Abschnitt endet. Ich trete die Kippe aus, bedanke mich und rolle über das nasse Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone hinaus aus Bückeburg.

Fortsetzung:
Ein Engländer gibt auf - Sonntag bei Frau Sonntag - Zwei Millionen schwule Väter.
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Reich durch Handtaschen und trotzdem nackt

Die Georgstraße in Hannover ist eine belebte Fußgängerzone zwischen Kröpcke und Steintor. Sie ist sehr breit, hat in der Mitte noch Platz für eine als Allee angelegte Fahrradstraße. Vom Kröpcke bis zum Steintor verändert die Georgstraße ihren Charakter. Das liegt an den Läden. Gegen Ende der Georgstraße verkauft man mehr Ramschware. Entsprechend sortiert sich das Publikum.

Es ist ungefähr fünf Uhr, da sitze ich eine Weile auf einer der weißen Bänke, die entlang der breiten Fahrradstraße aufgestellt sind. Um diese Zeit dürfen hier keine Radfahrer fahren, hätten aber auch keinen Platz zwischen den vielen Menschen. Hinter mir ist das Gebäude von Karstadt. Es hat eine Arkade, und darunter sind große Grabbeltische aufgestellt, übervoll mit Taschen und Geldbörsen. Eine Vertreterin rennt dazwischen auf und ab wie eine aufgescheuchte Ballerina und redet reißerisch in ihr Mikrophon: „Preise wie zu DM-Zeiten, meine Damen! Sie zahlen nur die Hälfte des angegebenen Preises. Und jetzt geht’s los. In den nächsten 20 Minuten bekommen Sie an die Kasse noch mal 20 Prozent von dieser Hälfte! Wenn die Tasche 60 Euro kostet, zahlen Sie die Hälfte, also 30 Euro. Und davon gehen an der Kasse noch einmal 20 Prozent ab! Sie zahlen nur 24 Euro!“

Das klingt besser als 60 Prozent Preisnachlass, ist werbewirksamer und anschaulicher. Man bekommt nicht einen Preisnachlass auf die Tasche, sondern zwei. Da will ich mir glatt eine schöne große Damenhandtasche kaufen, wenn mir quasi noch 36 Euro obendrauf geschenkt werden. Ich weiß aber nicht, wie viel Zeit schon vorbei ist von den 20 Minuten. Am Ende komme ich mit meiner aus den Tiefen der Grabbeltische erbeuteten Damenhandtasche zur Kasse, und da guckt die Kassiererin ostentativ auf ihre Uhr und sagt: Eine Minute drüber, die 20 Prozent auf die Hälfte können wir Ihnen leider nicht schenken.“ Das, stelle ich bald fest, ist eine überflüssige Befürchtung, denn die Frau mit dem Mikrophon kommt alle 10 Minuten und ruft 20 Minuten aus. Sie gehen also von morgens bis abends, ja, sind sogar eine Verdoppelung der Zeit. Und du sagst doch immer: „Zeit ist Geld!“

Ich wurde also reich, als ich mit dem Rücken zum Karstadt-Gebäude saß. Habe nichts ausgeben, und dann hat mir die Vertreterin noch 40 Minuten geschenkt, davon die Hälfte und noch mal 20 Prozent Abzug. Weil dadurch aber mein Zeitkontinuum ein wenig durcheinander geriet, bin ich jetzt vom Thema abgekommen... ach so: In der Minute gingen Hunderte an mir vorbei oder querten die Straße von einem Geschäft ins andere. Es ist unfassbar, welche Spielarten der Natur es gibt. Und alle hatten ja am Morgen ihre Kleidungsstücke aus dem Schrank genommen und sich damit bedeckt. Es gibt Moden, aber auch Vielfalt. Aber für einen Augenblick hatte ich die Vision, alle Kleidungsstücke, die in Ostasien gefertigt wurden, wären plötzlich verschwunden. Dann wären die Tausende, die ich in den 40 Minuten sah, allesamt nackt gewesen. Und die Taschen wären natürlich auch weg. Bekleidet hingegen wäre man vielleicht noch auf dem Teilstück der Georgstraße, jenseits vom Kröpcke, wo die feineren Geschäfte locken. Zumindest hätte der eine oder andere noch ein Trigema-Hemdchen an.

Mehr: Ethnologie des Alltags
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Herr Jesus hat mich nicht gegrüßt - aber immerhin


Seit es das
Internet gibt, gibt es auch mehr Erscheinungen. Vielmehr ist es so, die Schmocks von der Presse haben uns eine Menge Erscheinungen vorenthalten. Sie sitzen ja auf Bergen von ungedruckten Texten, und wenn ein Bericht von einer Erscheinung reinflatterte, dann hat sie spätesten der Chef vom Dienst bei der Redaktionskonferenz vom Tisch gefegt und gesagt: „Ach, nicht schon wieder eine verfluchte Erscheinung! Wir hatten doch erst letztes Jahr eine. Dafür ist jetzt kein Platz. Die heben wir nicht ins Blatt!“ Das sind nämlich alles Heiden oder Zyniker oder beides.

Dank Internet erfahren wir trotzdem von allen Marien- oder Jesuserscheinungen - auf Toastbroten, im Speiseeis, auf Regenrinnen und so fort. Dem kann ich jetzt eine Erscheinung hinzufügen, und ich will verflucht sein bis in die Steinzeit und zurück, wenn ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Gut, ich war bekifft oder hatte Bier getrunken, aber heißt es nicht, Betrunkene sagen die Wahrheit? Und war nicht auch die 38-jährige Krankenschwester Alex Cotton aus Coventry (England) betrunken, als sie Jesus auf ihrer Regenrinne entdeckte, den man nur sehen kann, wenn man auf allen Vieren kriecht? Ich sah jedenfalls den leibhaftigen Jesus in einem Hula-Hoop-Reifen.

Der war
sonnengelb und wurde gehalten von einem dienstbaren Geist, vermutlich einem Engel. Er saß auf dem Gepäckständer eines alten Damenfahrrads. Vor ihm saß Jesus und trieb das Fahrrad mit seinen Füßen an. Er sah genau so aus, wie er auf den wunderschönen Gemälden namenloser Künstler dargestellt ist, die früher über den Betten frommer Eheleute hingen. Er hatte schönes langes, kunstvoll gelocktes, braunes Haar, nur hielt er nicht seine Hand aufs strahlende Herz, sondern am Lenker. Er musste sich ja wenigstens ungefähr an die Straßenverkehrsordnung halten. Mit der Rechten grüßte er nach links und rechts wie der Papst, wenn er in seinem Papamobil unterwegs ist. Aber anders als der Papst hatte Jesus einen Glorienschein, der ihn von der Hüfte aufwärts umgab. Das war wie gesagt ein sonnengelber Hula-Hoop-Reifen, der von dem hinter ihm sitzenden dienstbaren Geist, vermutlich einem Engel, gehalten wurde.

Jesus grüßte und grüßte nach links und rechts, grüßte auch dahin, wo gar keiner war, wo zumindest ich keinen sehen konnte. Einziger Wermutstropfen: Er hat mich nicht gegrüßt, sah über mich hinweg, denn ich saß am Boden, vielmehr auf der Dornröschenbrücke ans Geländer gelehnt, wie ich es in letzter Zeit häufig tue, um den Sonnenuntergang zu genießen. Aber das will ich gelten lassen. Denn nur wer demütig ist, kann auf eine Erscheinung hoffen. Und weil ich mein eigener CvD bin, zumindest solange Frau Nettesheim nicht da ist, kann ich sogar Zeugnis ablegen.

Mehr: Ethnologie des Alltags
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Anbetung der Regenrinne - Ethnologie des Alltags

Als die 38-jährige Krankenschwester Alex Cotton aus Coventry (England) vom Fußballabend mit Freunden zurückkam, traf sie beinahe der Schlag. Am unteren Ende der hauseigenen Regenrinne war ihr still und heimlich Jesus erschienen. Ergriffen zeigte sie den etwa zehn Zentimeter langen Rostfleck-Jesus ihren Freunden Graham Morriss (33) und Alan Downer (40), worauf die auch nur noch eines sagen konnten, nämlich: „Wow!“

Rostfleck Jesus

Wann Jesus in das Regenrohr hineingefahren war, lässt sich nicht klären. Man muss auf allen Vieren kriechen, um ihn zu entdecken, was eine verantwortungsvolle Krankenschwester nicht alle Tage tut. An diesem Abend hat sie sich aber betrinken müssen, weil der diabolische Schiedsrichter den Engländern im WM-Spiel gegen Deutschland ein reguläres Tor verweigerte. Deutschland-England 4:1! Da hat sich nicht nur Alex Cotton (38) verzweifelt gefragt: „Wo, um Himmels Willen, war Gott?!“ Gott war eingerostet - auf ihrem Regenrohr.

Nicht alle erkennen das Mirakel. Für Krankenschwester Alex Cotton ist es eine Frage des Glaubens. Sie selbst sieht deutlich: Jesus, seinen Bart und den Dornenkranz. Daher hat sie beschlossen, Papst Benedikt einzuladen. Wenn er im kommenden September England besucht, soll er das Regenrohr bewundern und einsegnen. Der allmächtige Gott kann den Menschen selbstverständlich erscheinen wie und wo er will. Deshalb warnt „de redactie“ des belgischen VRT: „Sag nie so einfach ‚Rostfleck’ zu Jesus!“

Nachtrag: Im vergangenen Winter, als niemand daran glauben wollte, meldete „de redactie“, ein piepskleines englisches Wetterinstitut hätte einen brüllend heißen Sommer vorausgesagt. Und was ist? Draußen torkeln sie unter einer gnadenlosen Sonne oder sinken dehydriert in Hauseingänge. Da ist völlig klar, was der Rost-Jesus im Regenrohr uns sagen will: „Himmel sakra, der Sommer wird heiß, und manchmal kommt Regen!“

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